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Interview mit Luxemburger Wort

Interview mit Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums der EZB, geführt von Pierre Sorlut und Barbara Tasch am 8. März 2018 und veröffentlicht am 14. März 2018

Herr Mersch, der EZB-Rat hat noch nicht beschlossen, die Leitzinsen anzuheben. Fällt dieser Beschluss, so steigt die finanzielle Belastung privater Haushalte mit Hypotheken. Wie groß ist diese Gefahr?

Zunächst einmal gilt der Grundsatz: Je größer die Ungleichgewichte, desto weniger ist eine Volkswirtschaft auf eine Änderung der Geldpolitik vorbereitet. Eine Änderung des geldpolitischen Kurses ist immer ein Schock für eine Volkswirtschaft – mal positiv, mal negativ.

Unser Mandat sieht nicht vor, dass wir bei Änderungen des geldpolitischen Kurses die Situation der privaten Haushalte eines bestimmten Landes berücksichtigen. Dies gilt auch für Luxemburg. Wir legen die Leitzinsen für das gesamte Eurogebiet fest. Wir sind noch nicht soweit, die Leitzinsen zu ändern. Zunächst werden wir die Sondermaßnahmen allmählich zurückfahren und uns erst dann den konventionellen Maßnahmen zuwenden. Wir haben heute im Rahmen unserer Pressekonferenz bekräftigt, dass wir in Bezug auf den Weg zur Erreichung unseres Ziels zuversichtlich sind. Das vorrangige Ziel ist Preisstabilität, nach unserer Definition ist dies eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % auf mittlere Frist.

Hinzu kommt, dass Kredite an den privaten Sektor bei einigen Banken ein sehr großer Bilanzposten sind; bei einigen ist eine hohe Konzentration an Hypotheken festzustellen. In Luxemburg gibt es ein oder zwei Institute, die zu den Banken mit dem größten Engagement in Hypothekendarlehen in Europa zählen. Sollte ein Schock diese Kategorie von Vermögenswerten betreffen, wären diese Institute gefährdet. In Luxemburg sind die privaten Haushalte höher verschuldet als anderswo – zugleich sind sie aber auch vermögender. Außerdem gibt es Unterschiede bei den Inhabern von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten, die es auch zu berücksichtigen gilt. Eine Besonderheit des luxemburgischen Immobilienmarkts ist, dass der Preisdruck schneller zunimmt als in vielen anderen Ländern. Wir sprechen hier von einem Anstieg um 7 % bei einem nur halb so hohen Wirtschaftswachstum. In den vergangenen acht, neun Jahren haben sich die Immobilien um über 50 % verteuert, vor allem aufgrund des unzureichenden Angebots am Immobilienmarkt und der durch den Arbeitskräftezustrom bedingten kräftigen Nachfrage. In der Folge stagniert in Luxemburg der Vermögenszuwachs pro Kopf, und es entsteht der Eindruck einer ungleichen Vermögensverteilung. Kurzum: Luxemburgs Lage ist nicht verfahren. Risiken bestehen aber zweifelsohne und erfordern gemäß den Empfehlungen internationaler und nationaler Institutionen entsprechende Maßnahmen.

Was für Maßnahmen?

Das ist Sache der nationalen Behörden und nicht der Geldpolitik. Die Geldpolitik ist eine stumpfe Waffe. Aufgrund der räumlichen Nähe sind die nationalen Behörden am besten aufgestellt, um Probleme vor Ort anzugehen. Darum fällt die sogenannte makroprudenzielle Politik auch in ihren Zuständigkeitsbereich.

Wo bestünde denn Handlungsspielraum?

Es gibt auf den Kreditnehmer und auf den Kreditgeber abzielende Instrumente, etwa Verschuldungsquoten oder Beleihungsquoten, aber auch steuerliche Maßnahmen. Fördert man die Kreditvergabe auf der einen Seite durch Steuererleichterungen, dann ergibt es keinen Sinn, die Kreditvergabe auf der anderen Seite durch makroprudenzielle Instrumente einzuschränken. Man muss konsistent vorgehen. Trifft eine lockere Geldpolitik, wie die derzeitige, auf eine ebensolche Fiskalpolitik und eine deregulierte oder sehr laxe Aufsicht, dann sind Probleme quasi programmiert. Eben das führte zur letzten Finanzkrise: die Kombination aus lockerer Fiskalpolitik, akkommodierender Geldpolitik und laxer Aufsicht.

Wie genau schätzt die EZB das mit dem Brexit verbundene Risiko ein?

Zunächst einmal müssen die Forderungen des Vereinigten Königreichs bekannt sein. Und wir müssen wissen, was während einer möglichen Übergangsphase geschehen wird. Kommt es zu keinem Abkommen und folglich zu einem harten Brexit, so schadet dies beiden Seiten. Nötig ist eine gewisse Rechtsklarheit. Beispielsweise muss geklärt werden, ob Verträge ihre Gültigkeit behalten und wenn ja, wie sie umgesetzt werden könnten. Lösungen für den privaten Sektor könnten äußerst schwierig und mühselig sein. Ebenso könnte aber auch eine Reaktion der öffentlichen Hand erforderlich sein, z. B. die Anerkennung bereits bestehender vertraglicher Bindungen oder ein diesbezüglicher Bestandsschutz. Ab wann sollte dieser greifen? Ab Bekanntgabe des Brexits oder ab Beginn der Übergangsphase? Das ist alles unklar. Ich habe nicht auf alle Fragen eine Antwort, aber gehöre auch nicht zu denen, die glauben, dass die EU ohne London dem Untergang geweiht ist.

Wie würden Sie Ihre Zusammenarbeit mit der luxemburgischen Aufsicht beschreiben?

Vermutlich funktioniert die Zusammenarbeit bei den Zentralbankaktivitäten besser, da sie anders organisiert ist. Wir bilden zusammen ein System, das Eurosystem, beim Aufsichtsmechanismus ist das nicht der Fall. Die Aufsichtsinstanzen müssen nach wie vor eine Vielzahl nationaler Vorschriften beachten. Müsste eine supranationale Einrichtung wie der Einheitliche Abwicklungsmechanismus (Single Resolution Mechanism – SRM) nur europäisches Recht anwenden, würde Klarheit herrschen. Das wäre unsere Präferenz. Im Rahmen der Aufsicht hat jedoch das nationale Recht bisweilen Vorrang, und nach wie vor bestehen viele Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften, die die einheitliche Aufsichtsbehörde beachten muss.

Wie würden Sie das ganze System zentralisieren?

Es gibt verschiedene Behörden wie die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA), die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) und die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA). Derzeit besitzen sie jedoch lediglich eine primär koordinierende Funktion. Der bei der EZB angesiedelte Einheitliche Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism – SSM) ist für eine wirksame Bankenaufsicht zuständig. Für alle genannten Behörden liegen Verbesserungsvorschläge vor. Mit Blick auf die Wertpapiermärkte ist der Entwurf der Verordnung über europäische Marktinfrastrukturen 2 (EMIR2) ein weiteres wichtiges Projekt. Wenn wir 25 verschiedene Regulierungs- oder Aufsichtsbehörden kontaktieren müssten, um uns ein Bild davon zu machen, was im Binnenmarkt unter welchen Voraussetzungen erlaubt ist, wäre dies äußerst mühselig. Daher begrüßen wir eine Effizienzsteigerung auf europäischer Ebene. Die Vollendung der Bankenunion, d. h. ein Markt, eine Bankenaufsicht und eine Wertpapieraufsicht auf mittlere Frist, erachten wir als wichtig für den Binnenmarkt und die einheitliche Währung. Damit sollte auch ein einheitliches Einlagensicherungssystem einhergehen. Ich verstehe aber auch diejenigen, die der Auffassung sind, dass zuerst alle noch vorhandenen Altlasten beseitigt werden sollten, bevor das gemeinschaftliche Tragen von Verantwortung auf europäischer Ebene akzeptiert wird. Genau das tun wir, indem wir die Abwicklung notleidender Kredite vorantreiben. Wir versuchen, die Aufsichtsstandards zu vereinheitlichen. Es ist nicht damit getan, der europäischen Ebene lediglich die Verantwortlichkeit zuzuweisen, wir brauchen auch gleiche Rahmenbedingungen in Bezug auf die Instrumente und ihren Einsatz.

Die luxemburgische Finanzaufsicht (CSSF)[1] hat kürzlich Bedenken hinsichtlich ihrer Sanktionsbefugnisse geäußert. Was halten Sie von den Äußerungen ihres Generaldirektors Claude Marx?

Die eben angesprochenen Äußerungen sind mir nicht bekannt. Nach europäischem Recht fallen Strafsachen weiterhin in den Zuständigkeitsbereich nationaler Behörden. Verwaltungsrechtliche Sanktionen sind jedoch eine andere Sache. Manche schlagen die Einrichtung einer Behörde vor, die sich ausschließlich mit Sanktionen befasst. Diesbezüglich kenne ich keine einzelstaatlichen Initiativen in einem nationalen Kontext. Das muss ich auch nicht. Was Zentralbanken betrifft, bestehen Sanktionsbefugnisse auf nationaler, aber auch europäischer Ebene.

Sie beziehen sich auf den Fall der lettischen Bank ABLV ...

... der lettischen Tochtergesellschaft. Wie ich aus den Medien weiß, hat die EZB-Bankenaufsicht die nationalen Behörden über die Vorgänge informiert und ihnen nahe gelegt, die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente einzusetzen. Da die Art und Weise, wie die nationalen Instrumente eingesetzt wurden, jetzt Gegenstand eines Gerichtsverfahrens ist, kann ich mich dazu nicht weiter äußern. Darüber muss das Gericht entscheiden. Die nationale Zentralbank hat ihre eigenen Maßnahmen ergriffen und die Bank von den geldpolitischen Operationen ausgeschlossen, d.h. suspendiert. Die EZB hat die gesamte Gruppe erst später suspendiert [von geldpolitischen Geschäfte]. Die Banque centrale du Luxembourg (BCL) hat die Gruppe vor der EZB suspendiert, da sie die Möglichkeit hat, diese Maßnahme auf nationaler Ebene zu ergreifen.

Können Sie ein weiteres Beispiel nennen?

Es gibt einige Investmentfonds, die ihrer nationalen Zentralbank – welche wiederum uns Bericht erstattet – Informationen und Statistiken vorlegen sollten. Allerdings kommen einige von ihnen dieser Pflicht nicht nach. Wir haben die BCL mehrfach um die Einleitung von Sanktionen ersucht, da wir der Auffassung sind, dass sie klare Kenntnis von der Angelegenheit hat. Die BCL ist jetzt wohl bereit, dies zu tun. Ich glaube nicht, dass Zentralisierung immer besser ist, doch manchmal bewirkt räumliche Nähe größere Effizienz.

Ein weiteres Thema, das der EZB und den nationalen Gesetzgebern Kopfschmerzen bereitet, sind virtuelle Währungen. Luxemburg und andere EU-Länder messen virtuellen Währungen mehr und mehr Bedeutung bei – Sie selbst scheinen bei diesem Thema allerdings sehr vorsichtig zu sein. Was sind aus Ihrer Sicht die größten potenziellen Gefahren von Kryptowährungen?

Bei diesem Thema sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen – Finanzstabilität, Verbraucherschutz, Anlegerschutz, Marktintegrität und Geldwäschebekämpfung. Bedenken bezüglich der eben aufgeführten Aspekte bestehen insbesondere in Bezug auf das, was Sie „Kryptowährungen“ nennen. Aufgrund ihrer Parallelen zu Spielkasino-Marken bezeichne ich diese übrigens als virtuelle Gutscheine oder „virtual Tokens“. Studien zeigen, dass die Hälfte der unter Verwendung dieser virtuellen Tokens getätigten Transaktionen und ein Viertel der Token-Nutzer im Zusammenhang mit illegalen Aktivitäten stehen. Aus meiner Sicht gibt es vier Hauptrisiken: Das erste ist das Marktliquiditätsrisiko. Angesichts der Tatsache, dass rund 96 % aller Transaktionen von 2 % der Kontoinhaber durchgeführt werden, besteht eine übermäßige Marktkonzentration. Zweitens gibt es ein Liquiditätsrisiko. Für die Verwendung in der Realwirtschaft müssen diese „Währungen“ nach wie vor umgetauscht werden, denn kein Bäcker verkauft Ihnen dafür Brot. Es fanden Konferenzen zu Bitcoin statt, bei denen es hieß, man könne die Teilnahmegebühr mit Bitcoin bezahlen. Allerdings dauerte der Bezahlvorgang so lange, dass die Veranstaltung bei Zahlungseingang bereits vorbei war. Das ist doch kein effizientes System.

Das dritte Risiko besteht darin, dass sich Personen, die in der Realwirtschaft keine Fremdfinanzierungsmittel mehr bekommen, über Kryptowährungen Geld beschaffen. So könnten Verbraucher beispielsweise ihre Kreditkarten einsetzen, um derartige Anlagen zu tätigen, und sich somit höher verschulden. Und je höher die Verschuldung, desto größer auch das Risiko.

Das vierte Risiko ist die unzureichende operative und technische Reife der Technologie. Wir stehen der Distributed-Ledger-Technologie offen gegenüber. Aber diese Technologie ist nicht mit Bitcoin gleichzusetzen, denn Bitcoin gehört niemandem, keiner steht hinter dieser virtuellen „Währung“ oder kümmert sich um ihre Ausgabe. Das Bitcoin-Mining erfolgt größtenteils an abgelegenen Orten und ist äußerst energieintensiv: Schätzungen zufolge beläuft sich der Energieverbrauch von Bitcoin mittlerweile auf mehr als 52 Terawattstunden im Jahr. Das ist mehr als der jährliche Gesamtenergieverbrauch Portugals. Wir haben zudem festgestellt, dass bei Beantragung einer Genehmigung mitunter mehrere Stunden vergehen, bis ein Block validiert ist. Die EZB wird hingegen bald Echtzeitzahlungen in allen europäischen Ländern anbieten, die pro Transaktion 0,2 Cent kosten und innerhalb von 10 Sekunden beim Empfänger ankommen. Hierbei handelt es sich um eine effiziente und europaweite Lösung, für deren Betrieb vertrauenswürdige Instanzen sowie regulierte und beaufsichtige Stellen zuständig sind.

Ebenfalls erwähnt werden sollten Kanäle, über die sich die Risiken virtueller Währungen verbreiten können. Wenn private Haushalte Bitcoins intensiv nutzen und das System dann zusammenbricht, könnte dies – je nach Größe des Marktes – einen Vermögenseffekt für die Wirtschaft zur Folge haben. Bei offiziellen Währungen kann man auf Zentralbanken – wie die EZB – zählen und auf Staaten vertrauen, die politisches Kapital in den Erhalt einer Währung investieren und hinter ihr stehen. Unterscheiden die Bürger gedanklich nicht zwischen den beiden Konzepten – daher spreche ich auch ungern von „Währungen“ im Zusammenhang mit diesen Systemen – würde das Vertrauen in die offizielle Währung untergraben. Einige derjenigen, die sich für diese neuen Systeme stark machen, wollen eine „Währung“, die keiner staatlichen Kontrolle unterliegt. Es handelt sich also um einen anarchischen oder libertären Ansatz, dem man vermutlich etwas abgewinnen könnte, doch leider gibt es nun mal keine libertäre Rechtsdurchsetzung oder Weltregierung.

Vergangenen Monat äußerten Sie sich in London dahingehend, dass virtuelle Währungen keine echten Währungen seien und sich daran in absehbarer Zukunft auch nichts ändern würde. Was müsste geschehen, damit sie als echte Währung betrachtet werden, d. h. was müsste umgesetzt werden?

Wenn es keine vertrauenswürdige Instanz gibt, die für die Stabilität einer „Währung“ sorgt, also keine Institution, die in erster Linie just mit dieser Aufgabe betraut ist, dann kann man nicht von einer Währung sprechen. Geld hat drei Funktionen: es dient als Recheneinheit, als Wertaufbewahrungsmittel und als Tausch- sowie Zahlungsmittel. Wie ich bereits in London sagte, erfüllen diese „virtuellen Tokens“ keine davon.

Es gibt noch einen Sektor, der sich ausweitet, ohne einer richtigen Instanz zu unterliegen: der Schattenbankensektor. Einer aktuellen Studie ist zu entnehmen, dass dieser Sektor wächst und dass sich der Anteil des Luxemburger Markts – der erstmals in der Studie erfasst wurde – an den Schattenbankgeschäften insgesamt auf 7,2 % belaufen könnte. Wie würden Sie beurteilen, ob Aktivitäten wie Verbriefungen eine Bedrohung für die Finanzstabilität darstellen?

Gestatten Sie mir zunächst eine Anmerkung: nicht alles, was keine Bank ist, kann automatisch als Schattenbank bezeichnet werden. Die Banktätigkeit setzt per Definition voraus, dass Kredite vergeben und Einlagen hereingenommen werden. Und ja, viele dieser Institute gehen diesen Tätigkeiten nicht nach. Festzuhalten ist, dass einige Vehikel geschaffen wurden, um die Risiken der Banken zu verringern und somit ihre regulatorischen Kapitalanforderungen zu senken. Diese Vehikel werden eingesetzt, um sich der Aufsicht zu entziehen. Diese Vorgehensweise können wir nicht mehr hinnehmen, denn wir können uns keine weitere Krise mit einer Größenordnung wie die der Finanzkrise leisten.

Wie würden Sie dieses Risiko steuern?

Wir müssen entschlossen sein und die auf dem G-20-Gipfel von Pittsburgh vereinbarten Regeln umsetzen. Aber nicht bei allem handelt es sich um Schattenbanken-Aktivitäten. Beispielsweise wickelt die Weltbank – und insbesondere ihre Schwesterorganisation Internationale Finanz-Corporation (IFC) – viele Finanzierungen über Luxemburg ab. Aufgrund der Effizienz der hiesigen Rechtsvorschriften tätigen alle internationalen Entwicklungsbanken ihre Emissionen via Luxemburg. Viele weltweit tätige Kapitalgesellschaften können nicht überall Finanzmittel aufnehmen, daher ist eine Bündelung effizienter. Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um eine effiziente internationale Finanzierung und nicht um Schattenbanken-Aktivitäten. Für den Kunden entstehen keine zusätzlichen Risiken, vielmehr sinken seine Finanzierungskosten.

Auch über Geldmarktfonds sollte gesprochen werden. Diese können zu einem gewissen Grad Fremdmittel enthalten und weisen somit durchaus Ähnlichkeiten mit Banken auf. Das ist auch der Grund, warum Geldmarktfonds eine Meldepflicht gegenüber der EZB haben. Und dann gibt es noch Investmentfonds von Rechtssubjekten wie Investmentbanken, Private-Equity-Fonds und sonstige alternative Investmentfonds. Man darf nicht vergessen, dass Lehman Brothers in Luxemburg nicht als Bank agierte, seine Produkte damals aber an die meisten Banken verkaufte. Dies sind also Bereiche, in denen es zu prüfen gilt, ob es sich jeweils um eine bankähnliche Tätigkeit handelt oder nicht. Wenn ja, sollten dieselben Vorschriften angewandt werden wie bei einer Bank, andernfalls herrschen ungleiche Rahmenbedingungen. Das Ziel besteht darin, die Finanzwelt risikoärmer zu machen und zu verhindern, dass es noch einmal zu einem derartigen Aufbau von Risiken kommt wie vor der letzten Krise. Anstatt Unternehmen ihrer Rechtsform entsprechend zu regulieren sollten wir Risiken regulieren.

Ergeben sich aus dem Wahlergebnis in Italien Risiken für die Finanzstabilität in Europa?

Italien ist die drittgrößte Volkswirtschaft im Euroraum. Das Land hat in der Vergangenheit eine gewisse institutionelle Robustheit bewiesen. Natürlich wurde bei dieser Wahl den traditionellen Parteien eine Lektion erteilt. Ich hoffe, dass die eben erwähnte Robustheit in den kommenden Wochen und Monaten zum Tragen kommt.

Hinzu kommt, dass auf der anderen Seite des Atlantiks Präsident Trump unlängst eine Erhöhung der Zölle auf Stahl und Aluminium angekündigt hat, woraus ein Handelskonflikt mit Europa erwachsen könnte. Inwieweit bereitet dies der EZB Sorgen?

Selbstverständlich sind Konflikte dem Wirtschaftswachstum nicht förderlich. Aber betrachten wir die Dinge einmal der Reihe nach. Wie der EZB-Präsident bei der Pressekonferenz sagte, können sich Konflikte auf den Vertrauenskanal auswirken, da Vertrauen von so großer Bedeutung ist, sogar in dieser Phase der wirtschaftlichen Expansion.

Einige Prognosen lassen einen leichten Wachstumsrückgang im Euroraum erkennen. Könnte sich hieraus ein Problem für das Inflationsziel ergeben?

Vor weniger als sechs Monaten prognostizierten einige eine Inflation von unter 1 % für Februar bzw. März, und die Wachstumsprognosen waren nur halb so hoch wie die derzeit verzeichneten Werte. Alle Indikatoren deuten auf ein anhaltendes Wirtschaftswachstum in Europa hin, da beispielsweise die Kapazitätsauslastung und der Arbeitskräfteeinsatz nahe legen, dass nach wie vor Bedarf an weiteren Investitionen und einer fortgesetzten Ausweitung von Kapazitäten besteht. Die angebotsseitige Expansion steigert das Potenzialwachstum, wodurch ein höherer Arbeitskräfteeinsatz und höhere Einkommen möglich werden.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: was sind Ihre Pläne für Dezember 2020?

Ich weiß noch nicht einmal, wo ich Weihnachten 2020 verbringen werde. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Meine Arbeit macht mir nach wie vor Spaß, und je älter man wird, desto weniger schmiedet man Pläne für Termine, die 50 Jahre in der Zukunft liegen.

  1. [1] Die CSSF ist die für den luxemburgischen Finanzsektor zuständige Aufsichtsbehörde.

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