Suchoptionen
Startseite Medien Wissenswertes Forschung und Publikationen Statistiken Geldpolitik Der Euro Zahlungsverkehr und Märkte Karriere
Vorschläge
Sortieren nach

Globalisierung aktiv mitgestalten: Souveränität durch europäische Integration

Aufsatz von Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, für den Schuman-Bericht zu Europa 2018, 28. März 2018

In den letzten Jahren hat sich Widerstand gegen die Globalisierung und die internationale Zusammenarbeit formiert.[1] In Europa haben der Brexit und die kritische Haltung gegenüber dem Euro die Idee von der Europäischen Union (EU) als politisches Gebilde, das auf geteilter Souveränität, Personenfreizügigkeit und wirtschaftlicher Integration beruht und für das ein gemeinsamer Rechtsrahmen gilt, infrage gestellt. In den Vereinigten Staaten werden die Vorteile des Freihandels indes offen angezweifelt. Die Gefahr einer solchen Entwicklung galt gerade in Europa als besonders akut. Selbst bei einem Rückzug der Vereinigten Staaten aus der Globalisierung würde die Integrität des Landes keinen Schaden nehmen. In Europa stellt sich die Lage anders dar, denn die EU ist in vielerlei Hinsicht untrennbar mit dem Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und einer offenen Gesellschaft verbunden.

In jüngster Zeit hat sich die Stimmung gegenüber der EU dank dem kräftigeren Wirtschaftswachstum und sinkender Arbeitslosenzahlen verbessert. Laut der aktuellen Eurobarometer-Umfrage[2] fühlen sich sieben von zehn Europäern als Bürger der EU – der höchste je bei diesem Indikator gemessene Wert. Zudem befürworten derzeit drei Viertel der Bürgerinnen und Bürger im Euroraum den Euro – so viele, wie seit 2004 nicht mehr. Immer mehr Europäerinnen und Europäer sehen die Zukunft der EU optimistisch. 71 % der befragten Personen betrachten sie gegenwärtig als „Hort der Stabilität in einer unruhigen Welt“ – ein Anstieg um 5 Prozentpunkte seit 2016.

Nutzen wir also diese Chance, um Europa weiter voranzubringen – andernfalls könnte das Gemeinschaftsprojekt über kurz oder lang erneut gefährdet sein. Zum Handeln besteht ein offenkundiger Anlass: die grundlegenden Ängste der Menschen vor den Risiken der Offenheit haben sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Die besseren Konjunkturaussichten mögen solche Bedenken vorübergehend zerstreuen, aber in wirtschaftlich schwierigen Zeiten werden sie erneut aufkommen. Die EU kann jedoch eine dauerhafte Antwort auf diese Ängste geben. Zwar stellt der Widerstand gegen die Globalisierung auch eine Bedrohung für die EU dar, dennoch ist sie in der Lage, aufzuzeigen, wie man die Globalisierung steuern kann. Kritik an der Globalisierung wird ja nicht zum ersten Mal laut: Die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zeigte, dass unregulierte globale Märkte allzu leicht in Protektionismus und Nationalismus abgleiten können. Was uns diese Erfahrung lehrt, ist, dass grenzüberschreitende Integration nur dann Bestand hat, wenn sie von Institutionen geregelt und organisiert wird, die die Stabilität des Wirtschafts- und Finanzsystems gewährleisten, einheitliche Bedingungen sicherstellen, Streitigkeiten schlichten und die Solidarität unter den Mitgliedern fördern. Ebendies bietet die EU den Menschen in Europa: die Möglichkeit, eine offene, internationale Ordnung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig auch ihre Ergebnisse aktiv mitzugestalten.

Bedenken gegenüber der Globalisierung ernst nehmen

Die Globalisierung und offenen Märkte bereiten Menschen innerhalb und außerhalb Europas vor allem aus vier Gründen Sorgen.

Die erste Sorge betrifft die Stabilität – also die Frage, ob die Globalisierung dazu führt, dass Länder anfälliger sind für negative Übertragungseffekte aus anderen Ländern und für internationale Krisen. Dies gilt für Bereiche wie Landwirtschaft, Arzneimittel und Biotechnologie, tritt aber bei den internationalen Kapitalströmen (d. h. der finanziellen Globalisierung) vielleicht noch deutlicher zutage. Betrachtet man die asiatische Finanzkrise der späten 1990er-Jahre, die globale Finanzkrise der späten 2000er-Jahre und die Staatsschuldenkrise im Eurogebiet der frühen 2010er-Jahre, so zeigt sich, dass die internationale Finanzintegration immer wieder Schocks ausgelöst und verstärkt hat. So war von 1945 bis 1980 jedes Jahr im Schnitt eines von hundert Ländern rund um den Globus von einer Bankenkrise betroffen. Zwischen 1980 und 2008 – einem Zeitraum, in dem die globale Finanzintegration erheblich zunahm – war es dann schon eines von fünf Ländern.[3]

Die zweite Sorge betrifft die Fairness – also die Frage, ob sich alle Länder an dieselben Regeln und Standards halten. Auf globaler Ebene manifestiert sich dies in Vorwürfen in Bezug auf Währungsmanipulationen oder Dumpingpraktiken oder aber in Ängsten vor einer Abwärtsspirale bei den Umwelt- und Sozialstandards. Auch die Personenfreizügigkeit, die entsandte Arbeitnehmer einschließt, verunsichert einige.

Die dritte Sorge betrifft das Thema Ungleichheit. Viele glauben, dass Kapitalisten und Reiche von offenen Märkten profitieren, während die Arbeiter und Armen auf der Strecke bleiben. Sie sind der Auffassung, dass globale Wertschöpfungsketten (also mehrere Länder überspannende Lieferketten) die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer geschmälert haben. In der Tat gibt es empirische Belege, dass die finanzielle Globalisierung in manchen Ländern zu einer größeren Einkommensungleichheit geführt hat.[4] Laut Daten der OECD sind die Arbeitnehmerentgelte für die unteren 99 % der Einkommensbezieher (gemessen als Anteil am Nationaleinkommen) in den wohlhabenden Ländern in den letzten 20 Jahren gesunken, während sie für das obere 1 % (gemessen als Anteil am Nationaleinkommen) um 20 % gestiegen sind.[5] Gleichzeitig konnten Unternehmen und Privatpersonen aufgrund der globalen Integration leichter Schlupflöcher in der internationalen Gesetzgebung ausnutzen, um Steuern zu umgehen. Die Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer wurde vor dem Hintergrund von Verrechnungspreisen innerhalb der Wertschöpfungsketten untergraben. Gleichzeitig führte der Steuerwettbewerb dazu, dass Länder sich mit immer niedrigeren Steuersätzen zu unterbieten versuchten.[6] Unter Wirtschaftsexperten ist derzeit strittig, ob die ungleichen Gewinne, die der internationale Handel mit sich bringt, vollends durch Sozialtransfers ausgeglichen werden können oder ob die globalen Spielregeln geändert werden müssen.[7] Unstrittig ist hingegen, dass die Einnahmen, die den Staaten durch Steuerumgehung und -optimierung entgangen sind, zumindest dazu beigetragen hätten, die negativen Verteilungseffekte der Globalisierung zu mindern.[8]

Die vierte Sorge betrifft schließlich die Demokratie. Viele Menschen sind unsicher, ob der offene Markt auch wirklich einer demokratischen Kontrolle unterliegt. Je weniger die internationalen Märkte vor Landesgrenzen Halt machen, desto unklarer wird, wer diese Märkte reguliert. Einige befürchten, dass die Offenheit dazu geführt hat, dass gewählte Instanzen Souveränität an internationale Investoren oder multinationale Konzerne abtreten – z. B. mittels Mechanismen zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten und Investoren. Die internationale Zusammenarbeit zwischen gewählten Regierungen wurde infolge der globalen Finanzkrise (insbesondere im Kontext der G 20) zwar wieder verstärkt. Über Anstrengungen zur Bekämpfung akuter Krisen hinaus beschränkte sich deren tatsächliches Ergebnis jedoch weitgehend auf die Finanzmarktregulierung (und zuletzt auf die Zusammenarbeit bei Steuerthemen). Selbst wenn klare Strukturen für die demokratische Kontrolle vorhanden sind (wie im Fall der EU), ist es einigen Politikern gelungen, die Überzeugung zu säen, diese Strukturen hätten wenig mit den Lebensumständen der Wähler zu tun. Mit dem Versprechen, Befugnisse wieder auf die nationale Ebene zurückzuholen, konnten sie Erfolge für sich verbuchen.

Einige der erwähnten Sorgen beruhen eher auf Wahrnehmungen als auf Fakten. Eine höhere Anfälligkeit für finanzielle Schocks und ein größer werdendes Einkommensgefälle können beispielsweise auf mehrere andere Faktoren zurückzuführen sein, etwa den technologischen Wandel,[9] und beides ist zunehmend miteinander verflochten.[10] Es ist dennoch wichtig, nicht zu dünnhäutig auf Globalisierungskritik zu reagieren, und man muss sich auch ein Stück Demut bewahren und anerkennen, dass die Globalisierung grundlegende Fragen bezüglich Gerechtigkeit, Stabilität, Gleichheit und Demokratie aufwirft. Mit diesen Fragen muss man sich gebührend auseinandersetzen, gegebenenfalls müssen wirkungsvolle staatliche Maßnahmen ergriffen werden.

Souveränität wiedererlangen

Einige erachten die Abschottung hinter nationalen Grenzen als Lösung, doch dieser Weg ist aus zwei Gründen zum Scheitern verurteilt: Erstens entgehen den Menschen durch Abschottung die wirtschaftlichen Vorteile von Handel und Integration. Einer Schätzung zufolge wäre das Pro-Kopf-BIP in der EU ohne die Integration, die 1950 ihren Anfang nahm, ganze 20 % niedriger.[11] Mehr als 30 Millionen Arbeitsplätze (d. h. jeder siebte Arbeitsplatz) in der EU hängen von Ausfuhren in die übrige Welt ab.[12] Zweitens kann sich ein Land dem globalen Wettbewerb nicht dadurch entziehen, dass es seine Politik renationalisiert, da die Abkopplung von globalen Wertschöpfungsketten zu steigenden Inputpreisen führt. Diese mindern wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte des betreffenden Landes und verringern seine Attraktivität für Anleger. Hierdurch wird die Volkswirtschaft letztlich sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite geschwächt. Ebenso wenig kann ein Land dem Steuerwettbewerb entgehen, indem es sich aus der internationalen Zusammenarbeit zurückzieht, denn ein solcher Schritt dürfte zur Folge haben, dass es bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung weniger effektiv ist.

Die Erfahrung lehrt, dass es nur einen Weg gibt. In der Vergangenheit hat die Globalisierung zu Übertreibungen und zum Rückzug in den Protektionismus geführt. Daraus haben wir gelernt, dass die Globalisierung nur dann Bestand hat, wenn es starke Institutionen gibt. Die Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen usw. wurden als unmittelbare Reaktion auf den zwischen den beiden Weltkriegen aufkeimenden Protektionismus gegründet bzw. abgeschlossen. Die Gründung der G 5 in den 1970er-Jahren war Resultat der Ölkrise. Die G 20 entstand in den 1990er-Jahren wiederum im Gefolge der Asienkrise. Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers wurde ihr eine neue Rolle als Wächterin des Welthandels zuteil, die sich für eine Stärkung der globalen Finanzarchitektur einsetzt. Bislang ist die Europäische Union jedoch das politische Konstrukt, das bei der Bewältigung der Globalisierung mit Abstand am weitesten vorangekommen ist und die meisten Erfolge aufweisen kann.

Die Gründerväter der EU haben mit dem europäischen Projekt aufgezeigt, wie die aus offenen Märkten erwachsenden Herausforderungen gemeinsam – ohne den Rückzug hinter nationale Grenzen – gemeistert werden können. Sie schufen für die Mitgliedstaaten eine einzigartige Basis, die es ihnen erlaubt, einige der staatlichen Funktionen wiederzuerlangen, die durch die Globalisierung abgebaut wurden. Die Mitgliedstaaten müssen sich also nicht zwischen Offenheit und Souveränität entscheiden, sondern können Souveränität wiedererlangen, indem sie sie im Rahmen europäischer Institutionen gemeinsam ausüben.[13] Anders ausgedrückt bietet die EU eine regionale Antwort auf das durch den Wirtschaftswissenschaftler Dani Rodrik bekannt gewordene „politische Trilemma“,[14] dem zufolge Demokratie, nationale Selbstbestimmung und globale Wirtschaftsintegration nicht gleichzeitig möglich sind.

Das soll nicht heißen, dass die EU perfekt ist. Durch die zahlreichen Krisen, mit denen sie in den letzten Jahren konfrontiert war, sind viele Probleme bezüglich ihrer Effektivität und Legitimität zutage getreten, die in Angriff genommen werden müssen. Es ist der EU allerdings gelungen, mehr als 60 Jahre lang über die Grenzen des gesamten europäischen Kontinents hinweg eine offene Ordnung zu wahren. Seit 1960 liegt das kumulierte Wachstum des realen BIP pro Kopf in Westeuropa um ein Drittel höher als in den Vereinigten Staaten. Europa weist mit einer Steigerung von über 500 % einen größeren Vermögenszuwachs in Relation zum Jahreseinkommen auf als die Vereinigten Staaten, wo der Zuwachs bei 400 % liegt.[15] Gleichzeitig hat Europa auch ein größeres Bewusstsein für Nachhaltigkeitsthemen bewiesen, beispielsweise, indem es bei Verhandlungen über internationale Vereinbarungen der Vereinten Nationen zum Klimawandel (vom Kyoto-Protokoll bis zum Übereinkommen von Paris) eine Führungsrolle übernommen hat. Wenn wir auf Schwierigkeiten stoßen, sollten wir also nicht versuchen, die EU zurückzufahren und ihre zahlreichen Errungenschaften zu schmälern. Stattdessen sollten wir danach streben, auf europäischer Ebene bessere politische Institutionen zu schaffen, die konkret auf die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger eingehen und die von diesen gewünschte geregelte Entwicklung der Globalisierung auf der Grundlage der vier zuvor genannten Überlegungen realisieren.

Wirtschaftliche Integration und Fairness miteinander vereinbaren

Am erfolgreichsten war die EU vermutlich in ihrem Bestreben, die wirtschaftliche Integration fair zu gestalten, also sicherzustellen, dass sich alle an die gleichen Regeln und Standards halten. Von grundlegender Bedeutung sind hierbei die gleichen Bedingungen, die durch EU-Rechtsvorschriften festgelegt und von den zuständigen Institutionen, insbesondere vom Gerichtshof der Europäischen Union, durchgesetzt werden. So wird bestmöglich sichergestellt, dass fairer Wettbewerb und Verbraucherschutz nicht durch Offenheit untergraben werden. Zudem sind Unternehmen verpflichtet, beim Export von Waren in die Europäische Union deren Standards einzuhalten. Angesichts der Bedeutung des europäischen Markts (die EU ist Handelspartner Nummer eins für nicht weniger als 80 Länder) hat dies zur Folge, dass die EU die Standards anderer Länder tendenziell beeinflusst (sogenannter Brüssel-Effekt).[16] Anstatt zuzulassen, dass die Globalisierung einem unvermeidlichen Abwärtswettlauf Vorschub leistet, kann die EU mit ihrer Regelungsbefugnis dafür sorgen, dass ein Aufwärtswettlauf in Gang gesetzt wird. Dies kann der Globalisierung auf lange Sicht nur gut tun.

Was das Thema Fairness des Wettbewerbs anbelangt, so wird hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer immer mehr Kritik laut. Aber auch in diesem Bereich hat die EU einen Rahmen geschaffen, der Mobilität und Fairness miteinander in Einklang bringen soll und weiter ausgebaut werden kann. In das europäische Recht wurden nach und nach Bestimmungen aufgenommen, die wesentlich für den Schutz des europäischen Sozialmodells sind. Hier ist insbesondere die Charta der Grundrechte zu nennen. Außerdem ist es laut EU-Rahmen gestattet, dass nationale Behörden bei weniger offensichtlichen Formen von Lohnunterbietung ihre eigenen Mindestlöhne und Arbeitszeitbegrenzungen festlegen. In Bereichen, in denen Unstimmigkeiten herrschten, z. B. bei entsandten Arbeitnehmern, wurden die entsprechenden EU-Rechtsvorschriften nach intensiven politischen Debatten abgeändert.

Auch die einheitliche Währung unterstützt den fairen Handel in Europa. Da durch sie die Möglichkeit entfällt, nationale Währungen mehrfach für Wettbewerbszwecke abzuwerten, trägt sie zur Stärkung des Rahmenwerks für fairen Wettbewerb bei. Dadurch konnten Ängste vor Währungsmanipulation ausgeräumt, Verlockungen des Protektionismus gemindert und der Binnenmarkt gefördert werden. Da die Abwertung nun als Option entfällt, müssen die Länder des Euroraums die tatsächlichen Ursachen von etwaigen Wettbewerbsschwierigkeiten angehen.

Manchmal wird dies als bittere Pille betrachtet, die es zu schlucken gilt, denn solche Anpassungen können eine subtilere Form der Abwertung über Lohnzurückhaltung erforderlich machen. Viele Euro-Länder haben nach der globalen Finanzkrise diesen Ansatz verfolgt, um ihre Kostenwettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen; die meisten von ihnen haben sich inzwischen wieder vollständig erholt. Überlegenswert ist weiterhin, wie europäische Instrumente ausgestaltet werden könnten, damit soziale Sicherungssysteme zuverlässig verhindern, dass durch derartige Anpassungen die Armut steigt und das langfristige Wachstum gefährdet wird. Dadurch wird die Unterstützung für das europäische Projekt in Ländern gestärkt, die solche Anpassungen durchlaufen – vor allem im Kontext von Finanzhilfeprogrammen. Europas Instrumentarium zur Krisenbekämpfung ist dank der Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) deutlich besser geworden. Es bleiben aber weiterhin erhebliche Lücken, da es in Programmländern keine Zuschussinstrumente zur Unterstützung der sozialen Sicherungssysteme gibt und auch nicht die Möglichkeit besteht, größere Finanzmittel aus dem EU-Haushalt umzuwidmen.

Europäer vor Instabilität bewahren

Geht es um Waren und Dienstleistungen, so hat die EU einen enormen Beitrag dazu geleistet, dass die wirtschaftliche Integration als sicher – und somit als nachhaltig – wahrgenommen wird. Die regulatorische Konvergenz von Standards für Waren und Dienstleistungen, der gemeinsame Ansatz für eine Marktüberwachung und die Fähigkeit der EU, schnell auf Gefahren für den Verbraucherschutz zu reagieren, haben das Vertrauen in offene Märkte in Europas gestärkt. So überstand beispielsweise der Binnenmarkt für Tiefkühlkost den Pferdefleischskandal im Jahre 2013, bei dem in betrügerischer Absicht Pferdefleisch als Rindfleisch verkauft worden war, weitgehend unbeschadet. Das lag vor allem daran, dass die Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln verbessert und das Vertrauen durch EU-weite Kontrollmaßnahmen wiederhergestellt wurde. Das vermeintliche Fehlen regulatorischer Konvergenz zwischen der EU und Drittländern, insbesondere im Bereich der Lebensmittelsicherheit, hingegen ist einer der Gründe für die Ablehnung präferenzieller Handelsabkommen wie zum Beispiel TTIP.

Was das Finanzwesen betrifft, so hatte die EU bis vor Kurzem im Hinblick auf eine stabilere Integration weniger zu bieten. Wir mussten auf schmerzhafte Weise erfahren, dass eine unvollständige Währungsunion sowie integrierte Kapitalmärkte ohne eine gleichermaßen integrierte Finanzregulierung und Aufsicht eine eigene Art von Instabilität entstehen lassen können. In den letzten Jahren hat Europa allerdings wichtige Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt. So wurde der ESM gegründet und mit einer Darlehenskapazität von 500 Mrd € ausgestattet – das entspricht fast der Kreditvergabekapazität des IWF für die gesamte Welt. Der ESM kann Mitgliedstaaten unterstützen, wenn sie sich Liquiditätsengpässen gegenübersehen. Von ebenso großer Reichweite ist die Entscheidung zur Gründung einer Bankenunion, um die Risiken von systemischen Bankenkrisen zu mindern. 80 % aller Bankaktiva im Euroraum werden inzwischen auf europäischer Ebene beaufsichtigt. Außerdem gibt es einen einheitlichen Mechanismus für die Abwicklung zahlungsunfähiger Banken. Erstmals haben wir eine wahrhaft supranationale Governance des Bankensektors auf der Grundlage eines einheitlichen Regelwerks. So ist sichergestellt, dass es nicht zu einer regulatorischen Abwärtsspirale kommt.

Dennoch besteht diesbezüglich weiterhin Handlungsbedarf. Risiken für die Finanzstabilität, einschließlich neuer Risiken wie Bedrohungen der Cybersicherheit, erfordern fortlaufend Aufmerksamkeit. Bei der Errichtung einer Kapitalmarktunion stehen wir noch ganz am Anfang und vor gewaltigen rechtlichen Herausforderungen, die es zu überwinden gilt (z. B. die Harmonisierung – oder Vereinheitlichung – nationaler Insolvenzvorschriften). Darüber hinaus muss die Bankenunion vervollständigt werden, damit gewährleistet ist, dass zum Schutz von Steuerzahlern, Kunden und Einlegern in Europa durch und durch robuste Verteidigungslinien vorhanden sind. Diskussionen gibt es auch darüber, ob dem Euroraum Haushaltskapazitäten zur Verfügung gestellt werden. Dabei gehen die Meinungen auseinander, ob dieser Etat vor allem als Sicherungsmechanismus und als Instrument zum Anlegerschutz in Krisenzeiten dienen, sich eher auf die Stabilisierung des Konjunkturverlaufs fokussieren oder dauerhaft die Bereitstellung öffentlicher Güter finanzieren sollte. Zudem wird erörtert, wie die demokratische Rechenschaftspflicht am besten gewährleistet werden kann. Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass dieser Prozess ordnungsgemäß vonstattengeht und von Bemühungen zur Wiederherstellung der Finanzpolster auf nationaler Ebene begleitet wird. Fortschritte, die auf eine zentralere Finanzstabilisierung abzielen, sollten aber nicht auf unbestimmte Zeit aufgeschoben werden.[17]

Die Robustheit unseres Handlungsrahmens für die Krisenbewältigung wird erst bei der nächsten Krise ernsthaft auf die Probe gestellt werden, die bis dato gesammelten Erfahrungen machen aber Mut. Das Finanzsystem Europas hat die Turbulenzen, die 2015 und Anfang 2016 an den globalen Finanzmärkten auftraten, erfolgreich gemeistert; auch das Votum für den Brexit richtete keinen sichtbaren Schaden an. Europa beschreitet einen Weg, der den bislang fortschrittlichsten Versuch darstellt, die Vorteile grenzüberschreitender Finanzintegration (gemeinsame Risikoübernahme und Zugang zu Finanzmitteln) zu nutzen, ohne die damit einhergehenden Schwierigkeiten aus dem Blick zu verlieren.

Eine gerechte Integration fördern

Im dritten Bereich – der gerechten Gestaltung der Integration – lag der Schwerpunkt bislang nicht auf Maßnahmen auf EU-Ebene. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die EU-Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene bereits über die umfassendsten Sozialsysteme weltweit verfügen. Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oft betont hat, entfallen auf Europa 7 % der Weltbevölkerung, 25 % der weltweiten Wirtschaftsleistung und 50 % der weltweiten Sozialausgaben. Die Sozialsysteme müssen in vielerlei Hinsicht angepasst werden, wenn sie finanziell tragfähig bleiben sollen. Sie bieten aber auch eine solide Grundlage für den Schutz derer, die zu den Verlierern der Globalisierung gehören. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass eine nachhaltige Globalisierung oftmals eine Stärkung des Sozialsystems voraussetzt.

Die Erosion der Besteuerungsgrundlage und die Verlagerung von Unternehmensgewinnen stellen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Steuerung der Umverteilung vor große Herausforderungen, doch die EU verfügt in dieser Hinsicht über ein beträchtliches latentes Potenzial. Schließlich kann es sich kein Konzern – nicht einmal Apple – leisten, dem weltgrößten Markt gänzlich den Rücken zuzukehren. Auch setzt die Europäische Kommission bereits wettbewerbspolitische Instrumente ein, um möglicher Steuerarbitrage durch multinationale Konzerne entgegenzuwirken. Mit der vorgeschlagenen gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage können zudem Möglichkeiten der Steuervermeidung durch Gewinnverschiebungen innerhalb Europas ausgeschlossen werden. Auf beiden Gebieten können die europäischen Institutionen ganz anders als einzelne Staaten auf Großunternehmen einwirken.

In den Vordergrund wird künftig die Frage rücken, inwieweit die EU ihre direkte Rolle bei der Umverteilung ausbaut. Der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) wurde 2007 ins Leben gerufen, um Arbeitnehmer und Unternehmen während des Übergangsprozesses zu unterstützen. Doch sein Budget ist noch zu begrenzt und seine Verfahren sind zu schwerfällig. Der Europäische Sozialfonds ist sehr viel besser ausgestattet. Er hat sich als wirksames Instrument erwiesen, um Menschen bei der Rückkehr in eine Beschäftigung zu helfen. Es gibt gute Gründe, diese beiden Programme sowohl im Hinblick auf ihren Umfang als auch ihre Reichweite weiter auszubauen.[18]

Gewährleistung der demokratischen Legitimität

In vielerlei Hinsicht gibt die EU den Bürgerinnen und Bürgern mehr demokratische Kontrolle über die Globalisierung, als dies in anderen Ländern der Fall ist. Mit Blick auf die politische Struktur ist sie weitaus fortgeschrittener als viele andere Handelszonen. So werden Beschlüsse, die die gesamte EU betreffen, gemeinsam von national gewählten Vertretern im Rat der Europäischen Union und den direkt gewählten Vertretern im Europäischen Parlament getroffen. Die Befugnisse der EU bei den Wettbewerbsregeln und der Finanzmarktregulierung verleihen den Bürgerinnen und Bürgern zudem größere Kontrolle über multinationale Konzerne und die Finanzmärkte. Ein vereintes Europa, das weltweit mit einer Stimme spricht, kann auch europäische Interessen im Hinblick auf den Handel und auf Finanz-, Steuer-, Sozial- und Umweltstandards besser vertreten.

Allerdings müssen die Governance und die demokratische Legitimität weiter gestärkt werden. Der Europäische Stabilitätsmechanismus und Beschlüsse zu den Finanzhilfeprogrammen beispielsweise basieren auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen außerhalb der Zuständigkeit des Europäischen Parlaments. So kann der Eindruck entstehen, Befugnisse seien auf die europäische Ebene übertragen worden, wenn sie in Wirklichkeit überwiegend weiterhin von den Mitgliedstaaten ausgeübt werden.

Zwischenstaatliche Institutionen wie der ESM müssen letztlich in die EU-Verträge aufgenommen werden, um sowohl die demokratische Kontrolle als auch die Mittel und die Wahrnehmung von gemeinsamer Verantwortung und Entscheidungsfindung zu stärken. Andernfalls laufen wir Gefahr, dass gemeinsame Herausforderungen immer wieder durch die nationale Brille betrachtet werden. Dadurch würde die demokratische Debatte in Europa zwangsläufig zersplittert, und es würden Differenzen geschürt, die die Bemühungen zur Umsetzung einer wirksamen EU-Politik untergraben.[19]

Das Fehlen eines starken öffentlichen europäischen Forums verleiht der Problematik zusätzliches Gewicht. Ironischerweise könnte der EU die Globalisierung jedoch gerade in dieser Hinsicht in die Hände spielen. Denn die Verbreitung digitaler Technologien, insbesondere unter der jüngeren Bevölkerung, könnte die Debatte über die Rolle Europas verändern und weniger auf die Einzelstaaten lenken.

***

Für die EU besteht die Herausforderung darin, dafür zu sorgen, dass die Gesellschaftsverträge in den Ländern auch im Zuge der Globalisierung gewahrt werden – hierzu bedarf es im Wesentlichen eines länderübergreifenden Gesellschaftsvertrags. Dem kommt die EU kraft ihrer legislativen, exekutiven und judikativen Befugnisse auf europäischer Ebene nach. Werden diese Befugnisse richtig genutzt und gleichzeitig Verbesserungen der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene angestoßen, so kann die EU einen entscheidenden Beitrag zu nachhaltiger Globalisierung leisten – innerhalb und außerhalb Europas.

Dabei könnte auch die EU selbst in Bezug auf ihre gesellschaftliche Legitimation wichtige Fortschritte erzielen. Schafft die EU es zudem, überzeugender zu vermitteln, dass sie die Globalisierung im Sinne der Gesellschaft nutzt und zugleich Reformen durchsetzt, durch die sie ihr gesamtes Potenzial ausschöpfen kann, spricht alles dafür, dass einige der negativen Wahrnehmungen, denen sich die EU aktuell gegenübersieht, rasch zerstreut werden. Es ist stimmt mich zuversichtlich, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs eine stärkere Integration anstreben, um den gemeinsamen globalen Herausforderungen zu begegnen. Ungeachtet dessen, wie sich manche Schwarzmaler und Skeptiker äußern, könnte dies Europas großer Moment sein. Es ist an der Zeit, dass wir diese Chance ergreifen.

  1. [1] T. Chopin und M. Foucher (Hrsg.), Schuman Report on Europe, State of the Union 2018, Lignes de Repères, 2018. Ich danke Jean-François Jamet, Jonathan Yiangou und Sander Tordoir für ihre Beiträge zu diesem Aufsatz. Für die in ihm vertretenen Auffassungen bin ich allein verantwortlich.

  2. [2] Vgl. Standard-Eurobarometer 88, die Umfrage wurde von der Europäischen Kommission zwischen dem 5. und dem 19. November 2017 durchgeführt.

  3. [3] Siehe C. Reinhart und K. Rogoff, This Time Is Different: Eight Centuries of Financial Folly, Princeton University Press, 2009.

  4. [4] Siehe F. Jaumotte et al., Rising Income Inequality: Technology, or Trade and Financial Globalization?, IMF Economic Review, Bd. 61, Ausgabe 2, 2013, S. 271-309.

  5. [5] Siehe OECD, Beschäftigungsausblick 2012, 2012.

  6. [6] Siehe M. Devereux et al., Do countries compete over corporate tax rates?, Journal of Public Economics, Bd. 92, Ausgabe 5-6, 2008, S. 1210-1235.

  7. [7] Die erste Sichtweise entspricht einer Lehrbuchmeinung zum internationalen Handel, der zufolge die Vorteile des Handels zwar ungleich verteilt sind (z. B. zwischen Facharbeitern und ungelernten Arbeitskräften), dies aber vollends durch pauschale Ausgleichszahlungen korrigiert werden kann. Ein Beispiel der zweiten Sichtweise findet sich bei D. Rodrik, Too late to compensate free trade’s losers, Project Syndicate, 11. April 2017.

  8. [8] Siehe auch F. Bourguignon, Inequality and Globalization, Foreign Affairs, Januar/Februar, 2016, S. 11-15.

  9. [9] Siehe F. Jaumotte et al., 2013, a. a. O.

  10. [10] Siehe R. Baldwin, The Great Convergence: Information Technology and the New Globalization, Belknap Press: An Imprint of Harvard University Press, 2016.

  11. [11] H. Badinger, Growth Effects of Economic Integration: Evidence from the EU Member States, Review of World Economics, Bd. 141, Nr. 1, 2005, S. 50-78.

  12. [12] J. M. Rueda-Cantuche und N. Sousa, EU Exports to the World: Overview of Effects on Employment and Income, DG Trade Chief Economist Notes, Ausgabe 1, Europäische Kommission, Februar 2016.

  13. [13] T. Chopin, Defending Europe to defend real sovereignty, Policy Paper Nr. 194, Notre Europe – Jacques Delors Institut und Robert-Schuman-Stiftung, 25. April 2017.

  14. [14] D. Rodrik, The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy, W.W. Norton, 2011.

  15. [15] Quelle: World Wealth and Income Database.

  16. [16] A. Bradford, The Brussels Effect, Northwestern University Law Review, Bd. 107 (10), 2012, S. 1-63.

  17. [17] B. Cœuré, A budgetary capacity for the euro area, Einleitende Bemerkungen im Rahmen einer öffentlichen Anhörung vor dem Europäischen Parlament, Brüssel, 2. März 2016.

  18. [18] Siehe A. Bénassy-Quéré, Jobs Union, in: A. Bénassy-Quéré und F. Giavazzi (Hrsg.), Europe’s Political Spring: Fixing the Eurozone and Beyond, Vox EU eBook, 31. Mai 2017.

  19. [19] B. Cœuré, Drawing lessons from the crisis for the future of the euro area, Rede im Rahmen der Ambassadors’ Week, Paris, 27. August 2015.

KONTAKT

Europäische Zentralbank

Generaldirektion Kommunikation

Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.

Ansprechpartner für Medienvertreter