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Europas Zukunft gemeinsam gestalten

Einleitende Bemerkungen von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, 21. September 2020

Frankfurt am Main, 21. September 2020

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Schäuble,

Monsieur le Président Ferrand,

verehrte Mitglieder der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung!

Ich danke Ihnen herzlich für die Einladung.

Als Präsidentin der Europäischen Zentralbank und als Französin, die in Deutschland lebt und arbeitet, ist es mir eine Ehre, vor diesem historisch wichtigen Forum zu sprechen. Diese parlamentarische Versammlung verkörpert die besondere Beziehung unserer beiden Länder und deren Bekenntnis zur europäischen Integration. Es ist mir ein zentrales Anliegen, dass die EZB stets im Dialog steht, gerade auch mit den Vertretern der Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen dafür sorgen, dass wir von den Menschen in Europa gehört werden und sie von uns. Deshalb sind solche Zusammenkünfte wie heute so wichtig für mich.

Regelmäßig im Austausch sind wir mit dem Europäischen Parlament, dem wir laut Vertrag Rechenschaft über unsere geldpolitischen Aufgaben ablegen. Länderübergreifende Foren wie dieses bieten uns eine weitere Chance, nationale Belange zurückzustellen und über die Zukunft Europas zu sprechen.

Die Coronavirus-Pandemie ist eine Krise von bisher unbekanntem Ausmaß. Viele von Ihnen kennen sicher die berühmten Worte von Jean Monnet, einem der Gründerväter des europäischen Projekts: „Europa wird in Krisen geschaffen und wird die Summe der Lösungen sein, die in diesen Krisen gefunden wurden.“[1] Einmal mehr hat jetzt die Pandemie gezeigt, wie recht er hatte. Zweifellos hat diese Krise Europa gestärkt.

Aber jetzt hat Europa die Chance zu zeigen, dass es mehr sein kann, als die Summe der Lösungen, die in der Krise gefunden wurden. Wieder bietet ein Zitat von Monnet Inspiration. „Europa selbst ist nur eine Etappe auf dem Weg zu den Organisationsformen der Welt von morgen.“[2]

Diese Worte im Sinn müssen wir die unvergleichliche Chance nutzen, unsere Union zu stärken. Wir müssen die Erholung von der Krise so gestalten, dass unsere Volkswirtschaften für die Welt von morgen gerüstet sind.

Die einzigartige Stärke des europäischen Projekts

Die Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ließen die Konjunktur im Euroraum so stark einbrechen wie nie zuvor in Friedenszeiten.[3]

Die aktuellen Daten lassen zwar auf eine kräftige Belebung im dritten Quartal schließen[4], die Stärke der Erholung ist jedoch nach wie vor äußerst ungewiss, ungleichmäßig verteilt und unvollkommen. Sie hängt weiterhin sehr von der weiteren Entwicklung der Pandemie und dem Erfolg der Eindämmungsmaßnahmen ab.

Angesichts des größten wirtschaftlichen Schocks seit dem Zweiten Weltkrieg haben Europa und seine Führungsspitzen die einzigartige Stärke des europäischen Projekts unter Beweis gestellt: Wenn wir gemeinsam handeln, können wir mehr erreichen. Es ist vor allem dieser Stärke zu verdanken, dass wir in der zweiten Jahreshälfte eine Konjunkturerholung erwarten können.

Die EZB hat bei dieser gemeinsamen Anstrengung zur Bewältigung einer beispiellosen Krise ihren Beitrag geleistet.

Die Art des Pandemieschocks erforderte eine außergewöhnliche geldpolitische Reaktion. Wir haben das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) aufgelegt, um die Finanzmärkte zu stabilisieren und unseren geldpolitischen Kurs beträchtlich zu lockern. Das PEPP ist befristet, zielgerichtet und verhältnismäßig. Es ist auf diesen spezifischen Schock ausgerichtet und soll dem durch die Pandemie hervorgerufenen wirtschaftlichen Schaden und dem resultierenden Abwärtsdruck auf die Inflation entgegenwirken.

Außerdem mussten wir unbedingt das Risiko einer Kreditklemme begrenzen. Also lockerten wir die Bedingungen deutlich, zu denen sich Banken über unsere gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte Liquidität beschaffen können. Banken können derzeit bei der EZB Geld zu einem Zinssatz leihen, der bis zu -1 % betragen kann, sofern sie Kredite an die Realwirtschaft vergeben.

Sechs Monate nach ihrer Einführung haben unsere Maßnahmen die Märkte stabilisiert, das Kreditangebot gesichert und die Erholung gestützt. Diese Entwicklungen sollen ermöglichen, dass die Inflation zu unserem mittelfristigen Ziel zurückkehrt und dass Preisstabilität gewährleistet wird.

Doch ist das aktuelle Umfeld von hoher Unsicherheit geprägt. Neue Informationen müssen daher sehr aufmerksam geprüft werden. Dies gilt auch für die Wechselkursentwicklung im Hinblick auf ihre Folgen für die mittelfristigen Inflationsaussichten. Der EZB-Rat ist nach wie vor bereit, alle seine Instrumente gegebenenfalls anzupassen, um sicherzustellen, dass sich die Inflationsrate – im Einklang mit seinem Bekenntnis zur Symmetrie – auf nachhaltige Weise seinem Ziel annähert.

Die EZB war in den letzten sechs Monaten aber nicht der einzige Akteur. Unsere Maßnahmen wurden flankiert von energischen fiskalischen Reaktionen auf nationaler und europäischer Ebene. Dies hat maßgeblich dazu beigetragen, die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt und auf die Kreditvergabe der Banken abzuschwächen. Nach unserer Einschätzung braucht die Wirtschaft diese Unterstützung nach wie vor, damit sich die Erholung fortsetzen und weiter konsolidieren kann.

Die ehrgeizigen fiskalischen Maßnahmen nationaler Regierungen wurden ergänzt durch ein europäisches Sicherheitsnetz in Höhe von 540 Mrd €. Als die Krise sich ausweitete, ging Europa mit dem Aufbauinstrument Next Generation EU einen entscheidenden Schritt nach vorne. Erstmals kann ein gemeinsames Haushaltsinstrument auf europäischer Ebene verwendet werden, um fiskalische Stabilisatoren auf nationaler Ebene zu ergänzen, auch wenn es gegenwärtig nur befristet ist.

Das Ergebnis ist ein Policy-Mix, bei dem fiskalische und geldpolitische Maßnahmen zur Konjunkturbelebung sich gegenseitig verstärken und somit die mittelfristige Preisstabilität stützen.

Europas Zukunft gemeinsam gestalten

Nun geht es darum, diese positive Dynamik in die Zukunft zu überführen. Für Europa ist jetzt der Moment gekommen, den nächsten Schritt zu tun. Nachdem es zunächst galt, die unmittelbaren Auswirkungen der Krise einzudämmen, müssen wir nun eine gemeinsame Zukunftsvision gestalten.

Die Pandemie könnte Trends beschleunigen, die sich bereits vor der Krise abzeichneten; Trends, die strukturelle Veränderungen in der Weltwirtschaft herbeiführen werden.

In einer Welt, in der der technologische Wandel und geopolitische Spannungen zu einer geografischen Verschiebung der Wertschöpfungsketten führen, sollten wir die Größe und die Vielfalt der europäischen Wirtschaft nutzen.

Wenn wir die Wirtschafts- und Währungsunion stärken und den Binnenmarkt vertiefen, dann kommt dies allen Menschen in Europa zugute, weil wir die Art und Weise verbessern, wie wir Güter herstellen, verteilen und konsumieren. Außerdem erhöhen wir dadurch unsere Autonomie und sorgen dafür, dass Europa für die Welt von morgen besser gerüstet ist. Als Gesetzgeber spielen Sie eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung der Maßnahmen, die unseren Volkswirtschaften neuen Schwung geben können.

Digitalisierung ist ein gutes Beispiel. Wir müssen die potenziellen Vorteile digitaler Technologien nutzen und gleichzeitig dafür sorgen, dass unsere Arbeitsmärkte inklusiv bleiben. Andernfalls droht unseren Gesellschaften eine digitale Spaltung. Bereits jetzt ist zu beobachten, dass eine Kluft zwischen den unterschiedlichen Lohnbereichen, Bildungsgraden und Geschlechtern entsteht.[5]

Mit der richtigen Mischung aus nationalen und europäischen Maßnahmen werden wir gemeinsam mehr erreichen als im Alleingang. Auf nationaler Ebene müssen wir die notwendigen Änderungen bei der Regulierung des Arbeitsmarkts, des Güter- und des Finanzmarkts vornehmen. Und wir müssen in Bildung investieren, um digitaler Ausgrenzung entgegenzuwirken. Ergänzend dazu sollte auf europäischer Ebene der digitale Binnenmarkt vorangetrieben werden. Er soll digitalen Unternehmen dabei helfen, Skaleneffekte zu erzielen und gleichzeitig wichtige Fragen rund um Cybersicherheit und Datenschutz klären.

In einer zunehmend digitalen Welt müssen wir auch die Stärke und Autonomie der europäischen Zahlungssysteme sicherstellen. Das Eurosystem unterstützt aktiv Initiativen, die genau darauf abzielen.[6] Zudem prüfen wir die Vorzüge, Risiken und operativen Herausforderungen der Einführung eines digitalen Euro. Ein digitaler Euro könnte unser Bargeld ergänzen, nicht ersetzen. Er könnte eine Alternative zu privatwirtschaftlichen digitalen Währungen bieten und sicherstellen, dass Zentralbankgeld ein Kernbestandteil europäischer Zahlungssysteme ist.

Die Pandemie hat die Aufmerksamkeit der Menschen eindeutig wieder auf das Thema Umwelt gelenkt.[7] Diese Gelegenheit, Klimarisiken einzudämmen, ihnen vorzubeugen sowie den ökologischen Wandel zu finanzieren, dürfen wir nicht verpassen.

Sämtliche verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass Klimarisiken real sind und beträchtliche Folgen für unsere Wirtschaft haben. Ein ungeordneter Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft könnte systemrelevante Risiken bergen.[8] In Anbetracht der engen Verflechtung unseres Finanzsektors müssen wir diese Risiken gemeinsam angehen.

Der Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft eröffnet aber auch neue Wachstumschancen, die durch ehrgeizige Investitionsprogramme genutzt werden können. Die EU wird jedes Jahr zusätzliche Investitionen von bis zu 470 Mrd € brauchen, um ihre Klima- und Umweltziele zu erreichen.[9] Das Aufbauinstrument Next Generation EU wird die Rolle öffentlicher Haushalte bei der „grünen“ Finanzierung von Infrastrukturprojekten stärken.

Einen erfolgreichen Übergang wird es jedoch nur geben, wenn auch der private Sektor seinen Beitrag leistet. Das Finanzsystem sollte für diesen Wandel als Katalysator dienen.

Entscheidungsträger sollten daher die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Finanzsektor seiner Kernaufgabe gerecht werden kann: Kapital dorthin zu leiten, wo es am nötigsten gebraucht wird. Die von der Europäischen Kommission angekündigte erneuerte Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen dürfte dazu beitragen, dass die Preise externe Faktoren im Zusammenhang mit dem Klimawandel korrekt widerspiegeln. Gleichzeitig müssen wir alle Hindernisse für die Entwicklung eines grenzüberschreitenden Marktes für nachhaltige Finanzprodukte aus dem Weg räumen. Anders gesagt: Wir müssen die Bankenunion endlich vollenden und eine echte Kapitalmarktunion schaffen. Tiefe und liquide Kapitalmärkte können die internationale Rolle des Euro erheblich stärken und die strategische Autonomie Europas unterstützen.

Alle müssen gewappnet sein für die tiefgreifenden Veränderungen, die unsere Volkswirtschaften und Gesellschaften derzeit durchlaufen.

Mit ihrer laufenden Strategieüberprüfung wird die EZB sicherstellen, dass ihre geldpolitische Strategie sowohl heute als auch in Zukunft ihren Zweck erfüllt. Den Menschen in Europa zuhören, bevor Entscheidungen getroffen werden, mehr darüber erfahren, welche wirtschaftlichen Entwicklungen sie erwarten und welche ihnen Sorgen bereiten – das ist ein Kernelement dieser Überprüfung.[10]

Wenn wir jetzt die richtigen Maßnahmen treffen, dann kann diese Krise für uns eine Gelegenheit sein, die Voraussetzungen für ein inklusiveres, grüneres und digitaleres Wachstum zu schaffen. Um auf die Worte von Jean Monnet zurückzukommen: Diese Krise kann für Europa eine Gelegenheit sein, auf dem Weg zu den Organisationsformen der Welt von morgen einen Schritt weiterzugehen.

Schlussbemerkungen

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

Fast auf den Tag genau vor 60 Jahren – am 23. September 1960 – wurde die Europabrücke eingeweiht; die Rheinbrücke, die Kehl und Straßburg miteinander verbindet. Sie ist ein Symbol dafür geworden, wie nah sich unsere Länder stehen. Der Erfolg der deutsch-französischen „Brücke“ zeigte sich deutlich in dem Schmerz, den Familien, Unternehmen und Pendler erfuhren, als die deutsch-französische Grenze auf dem Höhepunkt der Pandemie geschlossen wurde. Daran werden sich die meisten von Ihnen nur zu gut erinnern.

Unsere aktuelle Herausforderung besteht nicht nur darin, „Brücken“ zwischen europäischen Ländern zu bauen. Wir müssen auch Brücken in die Zukunft schlagen und den Aufbau so gestalten, dass unsere Volkswirtschaften zukunftsfähig werden.

Brücken brauchen aber ein solides Fundament. Die Zukunft Europas muss auf starker demokratischer Legitimität aufbauen.

Die Bürgerinnen und Bürger Europas müssen im Mittelpunkt der Diskussion stehen, wenn es darum geht, welches Europa aus der Krise hervorgehen soll. Als ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter werden Sie, zusammen mit dem Europäischen Parlament, entscheidend dazu beitragen, dass ihre Stimmen Gehör finden.

Und nun freue ich mich auf unsere Diskussion.

  1. Auf Französich: „J’ai toujours pensé que l’Europe se ferait dans les crises, et qu’elle serait la somme des solutions qu’on apporterait à ces crises.“ Siehe J. Monnet., Mémoires, Fayard, Paris, 1976.
  2. Auf Französich: „[la Communauté européenne] elle-même n’est qu’une étape vers les formes d’organisation du monde de demain“ Siehe J. Monnet, ebd., S. 617.
  3. Nach einem deutlichen Einbruch im ersten Quartal 2020 ging das reale BIP im Euroraum im zweiten Quartal um 11,8 % zurück. Insgesamt entspricht dies einem Rekordrückgang von 15,1 % in der ersten Jahreshälfte.
  4. Von Experten der EZB erstellte gesamtwirtschaftliche Projektionen für das Euro-Währungsgebiet, September 2020.
  5. S. Milasi et al., „The potential for teleworking in Europe and the risk of a new digital divide”, VoxEU, 14. August 2020.
  6. C. Lagarde, Präsidentin der EZB, „Payments in a digital world“, Rede auf der virtuellen Herbstkonferenz „Banking and Payments in the Digital World“ der Deutschen Bundesbank, 10. September 2020.
  7. 75 % der Menschen in 16 großen Ländern erwarten von ihren Regierungen, dass Umweltschutz beim Wiederaufbau nach der Coronavirus-Pandemie ein Schwerpunkt ist. Siehe Ipsos Pressemitteilung (vom 5. Juni 2020) zu den Ergebnissen einer Umfrage, die zwischen dem 21. und 24. Mai 2020 auf der Online-Plattform „Global Advisor“ durchgeführt wurde.
  8. M. Giuzio et al. Climate change and financial stability, Financial Stability Review, EZB, Mai 2019.
  9. Europäische Kommission, Identifying Europe's recovery needs, Arbeitsdokument der Europäischen Kommission, 27. Mai 2020.
  10. Über unser Portal Die EZB hört zu rufen wir die Menschen, Organisationen und maßgeblichen Interessenträger im Euroraum dazu auf, Ideen einzubringen und sich dazu zu äußern, wie wir unsere Geldpolitik durchführen.
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