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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
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Geldpolitik in einem Umfeld hoher Inflation: Konsequenz und Klarheit

Vortrag von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, organisiert von der Eesti Pank und Professor Ragnar Nurkse gewidmet

Tallinn, 4 November 2022

Die Inflation im Euroraum ist viel zu hoch und erreichte im Oktober erstmals zweistellige Werte. Hier in Estland stieg die Inflation sogar auf bis zu 25 %. Die Kombination der Schocks, mit denen wir konfrontiert sind – Krieg, Energiekrise, Lieferkettenengpässe, Umverteilung der Nachfrage – bedeutet, dass die Inflation noch einige Zeit über unserem Zielwert bleiben wird.

In derart herausfordernden Zeiten müssen sich die Zentralbanken auf ihren inneren Kompass – die Treue zu ihrem Mandat – stützen, um Preisstabilität zu gewährleisten. Sie müssen bereit sein, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, um die Inflation wieder zu senken, egal wie schwierig diese Entscheidungen auch sein mögen. Denn wenn sie zulassen, dass sich die zu hohe Inflation verfestigt, wären die Folgen für alle wesentlich gravierender.

Was bedeutet das nun?

Die Antwort findet sich in den Schriften von Ragnar Nurkse, dem diese Vortragsreihe gewidmet ist. Bekannt wurde er wohl durch seine Arbeiten zur internationalen Finanzmarktarchitektur. Er hat aber auch auf der Grundlage der Erfahrungen aus den Zwischenkriegsjahren einen wichtigen Beitrag zu unserem Verständnis der Inflation geleistet.[1]

Insbesondere zeigte er auf, dass die Bekämpfung der Inflation sowohl komplex als auch einfach ist.

Sie ist komplex, da Volkswirtschaften in Zeiten großer Volatilität einer Reihe von Schocks ausgesetzt sein können, die eine steigende und anhaltende Inflation bewirken. Das war in den 1920er-Jahren der Fall, als die Inflation zum Teil durch einbrechende Wechselkurse und akute Lieferengpässe, auch im Energiesektor, bedingt war.

Aber sie ist auch einfach, da diese Schocks letztlich nur dann zu einer anhaltenden Inflation führen können, wenn sie von der Geldpolitik akkommodiert werden und es die Geldpolitik zulässt, dass sie sich in den Inflationserwartungen verfestigen.

Nurkse schrieb Folgendes: Wenn ein Preisanstieg einige Zeit andauert, löst er tendenziell Erwartungen eines weiteren Anstiegs aus. Der Zeitpunkt, zu dem diese Erwartungen verfestigt und verbreitet sind, ist im Inflationsprozess von entscheidender Bedeutung. Ab diesem Zeitpunkt ändert sich der Prozess von Grund auf.[2]

Heute stehen wir vor einem äußerst schwierigen Umfeld, in dem die Inflation durch mehrere verschiedene Schocks bedingt ist. Es ist aber die Geldpolitik, die darüber entscheiden wird, ob diese Schocks zu einer dauerhaft hohen Inflation führen. Und wir werden das nicht zulassen.

Daher werden wir die Zinssätze auf ein Niveau anheben müssen, mit dem wir unser mittelfristiges Inflationsziel von 2 % erreichen. Das endgültige Ziel unseres Zinspfades ist klar, und wir haben es noch nicht erreicht.

In meinen heutigen Ausführungen möchte ich erläutern, warum wir mit einer derart hohen Inflation konfrontiert sind, und das Risiko bewerten, dass sie sich verfestigt. Ich werde allerdings darlegen, dass wir mit den beiden „Ks“ – Konsequenz bei der Erfüllung unseres Mandats und Klarheit über unsere Reaktionsfunktion – erfolgreich auf die Herausforderungen reagieren und die Inflation wieder auf unseren Zielwert zurückbringen können.

Inflationstreibende Kräfte

Seit Beginn der Währungsunion haben wir keine derart schnelle Verschiebung des Inflationsumfelds erlebt. Die Gesamtinflation im Euroraum – die sich noch im Dezember 2020 im negativen Terrain befunden hatte – stieg um 11 Prozentpunkte von ihrem Tiefstand während der Pandemie auf ihren Stand im vergangenen Monat. Die Kerninflation, also die Inflation ohne Energie und Nahrungsmittel, hat sich um 4,8 Prozentpunkte erhöht.

Zu dieser Trendumkehr haben drei miteinander verflochtene Faktoren geführt: die Tatsache, dass wir mit wiederholten Schocks konfrontiert sind; die Tatsache, dass diese Schocks stärker auf die Inflation durchschlagen und die Tatsache, dass sich die Schocks aufgrund struktureller Änderungen in der Wirtschaft als dauerhafter erweisen als in der Vergangenheit.

Erstens wurde die Wirtschaft des Euroraums von einer Reihe beispielloser Schocks sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite der Wirtschaft getroffen. Dadurch wurde das Gesamtangebot begrenzt und gleichzeitig die Nachfrage hin zu Sektoren mit Kapazitätsengpässen gelenkt.

Wir haben pandemiebedingte Lockdowns, Störungen in den Lieferketten, Produktionsdrosselungen bei der Energie und die inakzeptable und ungerechtfertigte Invasion Russlands in der Ukraine erlebt – und all dies, während alle Sektoren von schnellen Nachfrageverlagerungen betroffen waren.[3] In jüngster Zeit hat die Wiederöffnung der Wirtschaft zu einer raschen Auflösung der aufgestauten Nachfrage geführt, die durch hohe überschüssige Ersparnisse gestützt war.

Aus diesem Grund kommt die EZB in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass Nachfrage- und Angebotsfaktoren derzeit in mehr oder weniger gleichem Maße zur Kerninflation beitragen, wobei für Dienstleistungen die Nachfrage und für Industriegüter das Angebot relevanter ist.[4] Dies hat zu einem starken und anhaltenden Inflationsschock geführt.

Zweitens sehen wir, dass diese Schocks schneller und stärker auf die Preise durchschlagen.

In der Vergangenheit dauerte es in der Regel etwa zwei Jahre, bis die Erzeugerpreise auf die Inflation bei Industrieerzeugnissen durchschlugen. Außerdem wurde dies oft teilweise durch die Gewinnmargen aufgefangen. Das heißt, die Unternehmen haben einen Teil der Kostensteigerungen absorbiert, um zu vermeiden, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher starken Preissteigerungen ausgesetzt waren.

Die EZB kommt in ihrer Analyse jedoch zu dem Schluss, dass dieses Durchschlagen auf die Inflation in jüngster Zeit wesentlich schneller geschah und nur etwa ein halbes Jahr dauerte. Und im Schnitt war es auch intensiver als in der Vergangenheit, da die Unternehmen ihre Gewinnmargen aufrechterhielten und in einigen Sektoren sogar erhöhten. Der Grund dafür ist, dass Unternehmen bei allgemein hoher Inflation und eingeschränktem Angebot Kostensteigerungen leichter an die Kunden weitergeben können, ohne dabei Marktanteile an ihre Wettbewerber zu verlieren.[5]

All dies hat dazu geführt, dass externe Schocks schnell auf die zugrunde liegende Inflation – den Teil der Inflation, der in der Regel „starrer“ ist – durchschlugen.[6] Auch wenn zu erwarten ist, dass sich einige der Faktoren abschwächen, wenn die Engpässe nachlassen, die Effekte der Wiederöffnung abklingen und sich die Energiepreise stabilisieren, liegen die Standardmessgrößen der zugrunde liegenden Inflation im Euroraum nun zwischen rund 4 % und 8 %.[7]

Diese Situation wird auch durch einen dritten Faktor verschärft: die Persistenz der Schocks aufgrund struktureller Veränderungen in der Wirtschaft.

Die durch die Pandemie und den Krieg ausgelösten Schocks haben zu etwas geführt, das ich bereits bei anderen Gelegenheiten eine neue globale Landkarte wirtschaftlicher Beziehungen genannt habe.[8] Und aufgrund der wirtschaftlichen Wendepunkte auf dieser neuen globalen Landkarte dürften einige Lieferengpässe länger anhalten.[9] Zwei Entwicklungen sind von besonderer Bedeutung.

Zum einen stellt die Reduzierung der Gaslieferungen infolge der russischen Invasion eine zentrale strukturelle Veränderung dar, deren Folgen noch mehrere Jahre lang zu spüren sein werden. Terminmarktkurven deuten darauf hin, dass die Gaspreise für einige Zeit erhöht bleiben werden, da europäische Länder einen Aufschlag zahlen müssen, um als Ersatz für russisches Gas nicht vertraglich vereinbartes Flüssigerdgas zu bekommen. Die Substitutionseffekte dürften auch die Preise für andere Energiequellen erhöhen.

Längerfristig gesehen dürfte der Krieg zudem den grünen Wandel in Europa beschleunigen, einschließlich des Umstiegs auf erneuerbare Energien, was letztlich zu sinkenden Strompreisen führen sollte. In der Übergangsphase könnten jedoch niedrigere Investitionen in die Öl- und Gasförderung verzeichnet werden. Dies würde zu einem Aufwärtsdruck bei den Preisen für fossile Brennstoffe führen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Nachfrage nach diesen Brennstoffen noch hoch ist.[10]

Zum anderen wird sich die Globalisierung selbst verändern, insbesondere die Rolle Chinas darin. Durch die Pandemie verursachte Lieferengpässe und sichtbar gewordene Anfälligkeiten sowie die neue geopolitische Landschaft dürften eine Neubewertung globaler Wertschöpfungsketten auslösen.

Dies wird zu keiner Entglobalisierung führen. Wir können allerdings davon ausgehen, dass geopolitische Faktoren wieder in die Lieferketten einfließen werden. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigt, dass beinahe 90 % der globalen Unternehmen davon ausgehen, dass sie ihre Produktion in den nächsten drei Jahren in die Region verlagern werden.[11] Dies dürfte die Effizienz verringern und die Kosten steigern, was für einige Zeit zu einem Inflationsdruck führen könnte, während sich die Lieferketten anpassen.

Gleichzeitig dürften sich die innenpolitischen Entscheidungen in China sowie die Ausfuhrkontrollen der Vereinigten Staaten für Schlüsseltechnologien auf die Stellung Chinas im globalen Produktionsnetzwerk auswirken. Dies könnte zu einem tiefgreifenden globalen Angebotsschock werden, wenn sich das Land dadurch wieder nach innen wendet und von marktorientierten Reformen abrückt.

Die Gefahr von Zweitrundeneffekten

Die Geldpolitik kann nicht verhindern, dass von vielen dieser Schocks Erstrundeneffekte ausgehen. Aber gerade dann, wenn die Schocks andauern, müssen wir sicherstellen, dass sie keine Zweitrundeneffekte nach sich ziehen, die dazu führen, dass sich die zu hohe Inflation verfestigt.

Da der Euroraum ein Nettoimporteur von Energie ist, haben wir es aufgrund der Verschlechterung unserer Terms of Trade mit einem großen und unvermeidbaren Schock für das Realeinkommen zu tun. Diese Belastung aufgrund der Verschlechterung der Terms of Trade belief sich im zweiten Quartal dieses Jahres auf rund 2 Prozentpunkte des BIP.[12]

Arbeitnehmer, Unternehmen und Regierungen stehen heute vor der Frage, wie diese Belastung innerhalb der Wirtschaft und über die Zeit hinweg verteilt werden sollte. Eine gerechte Lastenverteilung zwischen Lohneinkommen und Gewinnmargen ist sicherlich gerechtfertigt. Die Finanzpolitik kann auch dazu beitragen, die Belastung auf die verschiedenen Einkommensgruppen zu verteilen.

Die EZB muss jedoch angesichts ihres Mandats – der Gewährleistung von Preisstabilität – dafür sorgen, dass dieser Prozess nicht zu einer Inflationsdynamik führt. Wenn sich die Inflationserwartungen aus ihrer Verankerung lösen und in Tarifverhandlungen und der Preissetzung verfestigen, könnte eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt werden, durch die wiederum die Entankerung gefördert wird. Und dies würde im weiteren Verlauf letztlich sowohl niedrigere Realeinkommen als auch eine höhere Inflation zur Folge haben.

Wie akut ist demnach die Gefahr von Zweitrundeneffekten?

Es zeichnen sich Faktoren ab, die zu einer Verringerung der Nachfrage führen dürften, sodass es den Unternehmen bei ansonsten gleichen Bedingungen erschwert wird, Kostensteigerungen auf die Preise zu übertragen.

Die Großhandelspreise für Energie schlagen auf die Einzelhandelspreise durch, wodurch das Realeinkommen der privaten Haushalte immer mehr belastet wird und der Konsum zurückgehen dürfte. Gleichzeitig löst sich der Nachfragestau infolge der Wiederöffnung der Wirtschaft allmählich auf. Der Abbau der überschüssigen Ersparnisse wird offenbar bereits weitgehend durch zunehmendes Sparen aus Vorsichtsgründen und eine stärkere Liquiditätspräferenz ausgeglichen.[13]

Vor diesem Hintergrund hat die Gefahr einer Rezession zugenommen, obgleich die jüngsten Daten zum Wachstum des BIP überraschend positiv ausfielen. Das gilt auch für Estland, wo die Eesti Pank für dieses Jahr ein Wachstum von ‑0,5 % projiziert.

Diese Abkühlung der Inlandskonjunktur könnte überdies durch die weltweit synchronisierte Verschärfung des geldpolitischen Kurses verstärkt werden. Analysen der EZB zufolge hat die Straffung der Geldpolitik in den USA seit den frühen 1990er-Jahren die Industrieproduktion im Euroraum in der Regel ebenso stark zurückgehen lassen wie in den Vereinigten Staaten selbst.[14]

Erfahrungen aus der Vergangenheit deuten allerdings darauf hin, dass wir aufgrund eines verlangsamten Wachstums keine deutliche Dämpfung der Inflation erwarten sollten, zumindest nicht auf kurze Sicht. Bei der Betrachtung früherer Rezessionen in den Ländern des Euroraums bis zurück in die 1970er-Jahre zeigt sich, dass die Gesamtinflation ein Jahr nach der Rezession im Durchschnitt um etwa 1,1 Prozentpunkte, die Kerninflation hingegen um etwa die Hälfte dieses Werts sank.

Selbst wenn Ansteckungseffekte aus dem Ausland die Nachfrage zusätzlich verringern, wird die Inflation auf kurze Sicht nicht zwangsläufig sinken. Unsere Analyse hat ergeben, dass eine geldpolitische Straffung in den USA die Inflation im Euroraum auf mittlere Sicht tendenziell verringert. Auf kurze Sicht hingegen wird sich die Inflation beschleunigen, wenn der Euro gegenüber dem Dollar an Wert verliert und die Rohstoffpreise in Euro steigen.

In diesem Zusammenhang werden die Löhne wahrscheinlich zu einem gewissen Grad mit der höheren Inflation „Schritt halten“, da die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer versuchen können, Einbußen ihres Realeinkommens auszugleichen.

Der Arbeitsmarkt hat sich bislang als robust erwiesen, und die zukunftsgerichteten Indikatoren deuten kaum auf eine Abschwächung hin.[15] Die Inflationserwartungen sind leicht angestiegen. Zugleich sind die Regierungen mit Forderungen nach einer verstärkten Indexierung konfrontiert, beispielsweise durch die Kopplung der Renten und der Löhne im öffentlichen Sektor an die Inflation. Dadurch könnte der Lohndruck auch im privaten Sektor erhöht werden.[16]

Diese Aussichten werden durch die Ergebnisse der jüngsten Tarifrunden und unserer Telefonumfrage bei Unternehmen bestätigt, die beide darauf hindeuten, dass im nächsten Jahr Lohnerhöhungen um etwa 4 % ausgehandelt werden. Hier in Estland beläuft sich der Lohnzuwachs derzeit auf etwa 10 %.

Diese Entwicklungen stellen bislang keine übermäßigen Zweitrundeneffekte dar, und auf längere Sicht bleiben die Inflationserwartungen verankert. Da jedoch für einen längeren Zeitraum mit einer hohen Inflation zu rechnen ist, müssen wir die Inflationserwartungen und die Lohnverhandlungen sehr sorgfältig beobachten, um sicherzustellen, dass sich das Lohnwachstum nicht dauerhaft auf einem Niveau verfestigt, das mit unserem Ziel unvereinbar ist.

Konsequenz und Klarheit

Wie sollte die Geldpolitik unter diesen Bedingungen also kalibriert werden, um Preisstabilität zu gewährleisten? Meines Erachtens sind die beiden „Ks“ entscheidend: Konsequenz bei der Erfüllung unseres Mandats und Klarheit über unsere Reaktionsfunktion.

Nur wenn wir bei der Erfüllung unseres Mandats Konsequenz zeigen, können wir sicherstellen, dass die Inflationserwartungen verankert bleiben und sich keine Zweitrundeneffekte durchsetzen. Mit einer Reihe von Beschlüssen hat der EZB-Rat in jüngerer Zeit unsere Entschlossenheit in dieser Hinsicht unterstrichen.

Erstens haben wir die Leitzinsen so stark angehoben wie niemals zuvor – um 200 Basispunkte im Zuge unserer letzten drei geldpolitischen Sitzungen. Auf diese Weise demonstrieren wir Entschlossenheit, unser Ziel zu erreichen. Das sollte sich unmittelbar auf die Inflationserwartungen auswirken. Mit der Normalisierung der Geldpolitik wird in Zeiten eines unelastischen Angebots auch die Unterstützung der Nachfrage zurückgenommen, was die Unternehmen veranlassen dürfte, ihre Verkaufspreiserwartungen herabzusetzen.

Zweitens haben wir letzte Woche beschlossen, die Bedingungen für unsere gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (GLRG III) zu ändern. GLRG dienten während der Pandemie als Instrument für die notwendige deutliche Stimulierung und verstärkten die Transmission der Zinssätze auf die Wirtschaft über die Banken. Doch nun hat sich die Ausgangslage vollständig verändert, und wir müssen sicherstellen, dass die durch GLRG geschaffenen geringeren Refinanzierungskosten für Banken die geldpolitische Transmission nicht behindern, wenn eine Normalisierung der Geldpolitik erforderlich ist.

Damit ergänzen wir frühere Maßnahmen, um die ordnungsgemäße Transmission der Zinssätze auf die Wirtschaft über die Finanzmärkte aufrechtzuerhalten. Hierzu zählten flexible Reinvestitionen unter dem Pandemie-Notfallankaufprogramm und das neue Instrument zur Absicherung der Transmission.

Obgleich die Zinssätze weiterhin das wirkungsvollste Instrument darstellen, um der hohen Inflation entgegenzuwirken, ist es wichtig, das folgende Signal auszusenden, wie wir dies in unserer Erklärung zur Geldpolitik auch immer wieder tun: „Wir sind bereit, alle unsere Instrumente im Rahmen unseres Mandats anzupassen, um sicherzustellen, dass die Inflation zum mittelfristigen Inflationsziel zurückkehrt.“

In diesem Zusammenhang werden wir, wie ich bereits auf der Pressekonferenz in der vergangenen Woche erklärte, im Dezember die wesentlichen Grundsätze für den Abbau der Anleihebestände darlegen, die wir im Rahmen unserer zu geldpolitischen Zwecken gehaltenen Portfolios erworben haben.

Unsere Konsequenz muss allerdings auch mit Klarheit über unsere Reaktionsfunktion einhergehen.

Angesichts der heutigen Unsicherheit ist es nicht länger angemessen, dass die Geldpolitik eine detaillierte Forward Guidance gibt. Angesichts der Komplexität der aktuellen Schocks ist die Fähigkeit, schnell auf neue Daten zu reagieren, von großem Vorteil. Doch eine Geldpolitik, bei der anhand der Datenlage von Sitzung zu Sitzung entschieden wird, kann bestimmte Nachteile mit sich bringen. Insbesondere reagieren die Marktzinsen mit größerer Volatilität auf neue Meldungen.

Aus diesem Grund ist es wichtig, unsere Reaktionsfunktion zu verdeutlichen, anstatt die Märkte anhand eines bestimmten Zielwerts für die Zinssätze zu lenken.

Wie bereits zuvor erwähnt, haben wir die Zinssätze um 200 Basispunkte angehoben und gehen von einer weiteren Anhebung der Zinssätze aus. Unsere Aufgabe ist bei Weitem noch nicht erfüllt. Und womöglich wird die Rücknahme der Akkommodierung nicht ausreichen, um die Inflation wieder auf unseren Zielwert zurückzuführen. Wie weit der Weg zu unserem Ziel noch ist und wie schnell wir es erreichen müssen, hängt von den folgenden Faktoren ab:

Der erste und wichtigste Faktor sind die Inflationsaussichten: Wir werden die Zinssätze auf ein Niveau anheben, das die Inflation rechtzeitig wieder auf unseren mittelfristigen Zielwert zurückführt. Die Inflationsaussichten sind zukunftsgerichtet und berücksichtigen alle maßgeblichen Faktoren: die Konjunkturaussichten, die Persistenz der Schocks und die Reaktion der Löhne und der Inflationserwartungen. Die aktuellen Inflationszahlen sind deshalb relevant, weil sie zusätzliche Einblicke in die Persistenz der Inflation bieten.

Der zweite Faktor ist der damit verbundene geldpolitische Kurs und die Verzögerungen seiner Transmission auf Nachfrage und Inflation. Die Geldpolitik ist per se zukunftsgerichtet, da Änderungen der Zinssätze erst im Laufe von einem oder zwei Jahren ihre volle Wirkung entfalten. Daraus ergibt sich, dass die Wirkung geldpolitischer Entscheidungen mit der Zeit zunimmt, jedoch erst mit zeitlicher Verzögerung in den harten Daten sichtbar wird.

Diese Transmissionsverzögerung und die vorherrschende Unsicherheit bedeuten jedoch auch, dass der künftige Zinspfad anders aussehen wird, je nachdem, auf welche möglichen Ereignisse wir reagieren müssen. Wenn beispielsweise erkennbar ist, dass sich die Inflation verfestigt und eine Entankerung der Erwartungen droht, dann können wir womöglich nicht abwarten, bis die geldpolitischen Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten. Wir müssten zusätzliche Maßnahmen ergreifen, bis wir mehr Zuversicht gewinnen, dass die Inflation rechtzeitig auf ihren Zielwert zurückkehrt.

Klarheit hat noch eine weitere wichtige Dimension: Wir müssen Klarheit darüber schaffen, wie sich die Absichten anderer Politikbereiche auf die Inflationsaussichten und damit auf unsere politischen Maßnahmen auswirken.

Während der Pandemie waren finanz- und geldpolitische Maßnahmen naturgemäß aufeinander abgestimmt. Die Finanzpolitik musste einen katastrophalen Einbruch der Beschäftigung abwenden, und die Geldpolitik einen steilen Rückgang der Inflation. Beide unterstützten die Preisstabilität.

Heute dagegen erfolgt die Abstimmung der verschiedenen politischen Maßnahmen weniger automatisch. Die Verlangsamung der Konjunktur und das Sinken der Realeinkommen könnte zu einem expansiveren Kurs der Finanzpolitik führen, der sich nicht auf automatische Stabilisatoren beschränkt und darüber hinausgeht. In einem Umfeld mit einem begrenzten Angebot könnte dies den Inflationsdruck erhöhen und die Zentralbank zwingen, ihre Geldpolitik mehr zu straffen, als es andernfalls notwendig wäre.

Deshalb betonen wir, dass finanzpolitische Unterstützungsmaßnahmen temporär, zielgerichtet und auf die jeweilige Situation zugeschnitten sein müssen.

Sie sollten temporär sein, um die Nachfrage auf mittlere Sicht nicht zu stark in die Höhe zu treiben. Sie sollten zielgerichtet sein, damit der finanzpolitische Impuls in seinem Umfang begrenzt bleibt und denjenigen zugutekommt, die ihn am dringendsten benötigen. Und sie sollten auf die jeweilige Situation zugeschnitten sein, damit sie die Anreize zur Senkung der Energienachfrage nicht abschwächen.

Mit der Zeit muss die Finanzpolitik konsolidiert werden – und im Hinblick auf die Inflation ist es nicht dasselbe, ob dies durch die Reduzierung von Transferzahlungen und öffentlichen Ausgaben sowie durch Steuererhöhungen geschieht oder, wie es in der Vergangenheit oftmals der Fall war, durch eine Kürzung der öffentlichen Investitionsausgaben. Da viele der Ursachen der aktuellen Inflation auf der Angebotsseite liegen, bedarf es zur Erreichung eines inflationsfreien Wachstums staatlicher Maßnahmen, die die Investitionen dorthin umlenken, wo sie benötigt werden.

Schlussbemerkungen

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

Das Umfeld, mit dem wir heute konfrontiert sind, ist komplex. Von verschiedenen Seiten sehen wir uns Schocks ausgesetzt, und wir bestimmen unseren Kurs nach einer „neuen globalen Landkarte“, in der diese Schocks noch länger fortdauern.

Doch was die Geldpolitik letztlich bewirken muss, ist einfach: Wir dürfen und werden nicht zulassen, dass sich die hohe Inflation verfestigt. Wir sind fest entschlossen, die Inflation auf unseren mittelfristigen Zielwert zurückzuführen und die dafür erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Je zuversichtlicher die Öffentlichkeit ist, dass die Inflation zeitnah wieder auf 2 % zurückgeht, desto reibungsloser wird der Anpassungsprozess verlaufen.

Samuel Johnson schrieb: Große Werke werden nicht durch Stärke, sondern durch Beharrlichkeit vollbracht. Und wir werden so lange beharrlich bleiben, bis die Preisstabilität im Euroraum gewährleistet ist.

  1. Völkerbund, The course and control of inflation: A review of monetary experience in Europe after World War I, Series of League of Nations publications, 1946.

  2. Ebd.

  3. Seit Ausbruch der Pandemie ist die Volatilität der Konsumausgaben für Gebrauchsgüter fast zehnmal so hoch wie in den zwei Jahrzehnten zuvor. Im Fall der Dienstleistungen ist sie fast 30 Mal so hoch.

  4. Siehe EZB, E. Gonçalves und G. Koester, The role of demand and supply in underlying inflation – decomposing HICPX inflation into components, Wirtschaftsbericht, 7/2022.

  5. Dieses Muster steht im Einklang mit jüngsten Forschungsergebnissen, aus denen hervorgeht, dass sich kostentreibende Schocks bei einem steilen Anstieg der Inflation stärker auf die Inflation übertragen als bei einem moderaten Anstieg der Inflation, d. h. die Phillips-Kurve verläuft nichtlinear. J. Lindé, M. Harding und M. Trabandt, Understanding Post-Covid Inflation Dynamics, 2022.

  6. Dieses raschere Durchschlagen könnte aber auch bedeuten, dass die Inflation letztlich weniger beständig ist, da sich die Preissteigerungen zeitlich nach vorne verlagerten.

  7. Die Bandbreite umfasst die HVPIXX-Inflation, den Supercore-Indikator, die persistente und gemeinsame Komponente der Inflation (PCCI) ohne Energie sowie die Messgröße der EZB für die inländische Inflation, die nur Komponenten mit niedrigerem Importgehalt erfasst.

  8. C. Lagarde, A new global map:European resilience in a changing world, Grundsatzrede am Peterson Institute for International Economics, Washington, D.C., 22. April 2022.

  9. Für weitere Informationen dazu siehe C. Lagarde, Geldpolitik im Euroraum, Karl Otto Pöhl Lecture, organisiert von der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft, Frankfurt am Main, 20. September 2022.

  10. Gleichzeitig könnte die Abschreibung von bestehendem CO2-intensivem Kapital zu einem negativen Vermögenseffekt und einer niedrigeren gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führen, was einen Abwärtsdruck auf die Kerninflation zur Folge hätte. Siehe IWF, Near-term Macroeconomic Impact of Decarbonization Policies, World Economic Outlook, Oktober 2022.

  11. McKinsey, How COVID-19 is reshaping supply chains, 23. November 2021.

  12. Im Vergleich zum Vorjahresquartal.

  13. Die Einlagen der privaten Haushalte sind im August um rund 40 Mrd Euro gestiegen.

  14. Siehe M. Ca' Zorzi, L. Dedola, G. Georgiadis, M. Jarocinski, L. Stracca und G. H. Strasser (erscheint in Kürze), Making waves: Monetary policy and its asymmetric spillovers in a globalised world, International Journal of Central Banking sowie R. Degasperi, S. Hong und G. Ricco, The Global Transmission of U.S. Monetary Policy, Warwick Economics Research Paper Series 1257, 2020.

  15. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass Unternehmen auf die Verlangsamung des Wachstums zunächst nicht mit Entlassungen, sondern mit der Hortung von Arbeitskräften, d. h. mit einer Verkürzung der Arbeitszeiten, reagieren.

  16. Eine Erhöhung der Löhne im öffentlichen Sektor um 1 Prozentpunkt treibt die Löhne im privaten Sektor in der Regel um 0,3 bis 0,6 Prozentpunkte nach oben.

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