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Isabel Schnabel
Member of the ECB's Executive Board
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Vom Nachzügler zum Vorreiter? Wie Europa den Technologie-Rückstand aufholen kann

Rede von Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB, bei der wirtschaftswissenschaftlichen Konferenz im Bundeskanzleramt, Berlin

Berlin, 14. Mai 2024

Mehr als 30 Jahre nach ihrer Gründung gilt die Wirtschafts- und Währungsunion weithin als Erfolg.[1] Sie hat eine weltweit führende Rolle im Bereich der sozialen Sicherung, bei der Bekämpfung des Klimawandels und als Hüterin des Freihandels und der Demokratie erlangt.

Doch in einer Welt, die immer mehr an Offenheit, Stabilität und Verlässlichkeit einbüßt, sind diese Errungenschaften zunehmend in Gefahr. Um seine Rolle zu behaupten, muss der Euroraum wettbewerbsfähig bleiben. Er muss also in der Lage sein, das nachhaltige Wachstum zu generieren, von dem unser soziales und wirtschaftliches Gefüge abhängen.

Um diese Fähigkeit ist es jedoch zunehmend schlecht bestellt. Zur Jahrtausendwende gehörte Europa im Technologiebereich zur Weltspitze, heute hinken zahlreiche im Euroraum ansässige Unternehmen der globalen Entwicklung hinterher.

Welche Faktoren stecken hinter der Wettbewerbskrise des Euroraums? Und mit welchen Maßnahmen kann man den tieferen Ursachen dieser Krise entgegenwirken?

Europas verpasste IT-Revolution

Seit 2022 hat sich beim Produktivitätswachstum eine deutliche Lücke zwischen den Vereinigten Staaten und dem Euroraum aufgetan, wie Sie der linken Grafik meiner ersten Folie (Folie 2) entnehmen können.

In den USA hat sich das Produktivitätswachstum spürbar erholt, im Euroraum fällt die Produktivität hingegen.

Die Grafik auf der rechten Seite veranschaulicht, dass diese Entwicklung in erheblichem Umfang gegenläufige Entwicklungen bei den Beschäftigungsquoten widerspiegelt: Während die Erwerbsbeteiligung in den Vereinigten Staaten unterhalb des vor der Pandemie verzeichneten Niveaus verharrt, ist das Beschäftigungswachstum im Euroraum trotz schwacher gesamtwirtschaftlicher Nachfrage auf Rekordwerte angestiegen.

Es bleibt ein Rätsel, weshalb die Unternehmen im Euroraum in einem solchen Ausmaß Arbeitskräfte horten. Möglicherweise haben veränderte Präferenzen – also der Wunsch, die Arbeitszeit zu reduzieren – zusammen mit dem beginnenden Eintritt der Babyboom-Generation in den Ruhestand dafür gesorgt, dass die Unternehmen bei der Anpassung der Beschäftigung vorsichtiger geworden sind.

Besorgniserregender ist jedoch, dass die aktuelle Schwäche beim Produktivitätswachstum im Euroraum die Fortsetzung eines Trends ist, der bis in die 1990er-Jahre zurückreicht.

Die linke Grafik meiner nächsten Folie (Folie 3) zeigt, wie sich die Produktivität seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat.

Wie Sie sehen, stieg das Verhältnis der Arbeitsproduktivität der vier größten Volkswirtschaften des Euroraums gegenüber derjenigen der Vereinigten Staaten von 25 % im Jahr 1945 auf 100 % im Jahr 1995 an. Die Produktivitätslücke, die durch zwei Weltkriege gegenüber den USA aufklaffte, wurde somit geschlossen.

Die rechte Grafik zeigt, dass dieser Anstieg den gesamten Euroraum betraf. Dies war auf die rasche Integration in den Bereichen Handel und Finanzen im Vorfeld der Schaffung des EU-Binnenmarkts zurückzuführen. Damals breiteten sich neue Technologien schnell über Ländergrenzen hinweg aus.

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert lag Europa also bei der Produktivität weltweit vorne. In den darauffolgenden Jahren geriet der Euroraum allerdings zunehmend ins Hintertreffen.

Zwischen 1995 und 2007 zog das jährliche BIP-Wachstum pro Stunde in den Vereinigten Staaten deutlich an, während es sich im Euroraum verlangsamte und auseinanderentwickelte.

Über diesen Zeitraum, also bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise im Jahr 2008, verzeichneten die Volkswirtschaften des Euroraums gegenüber den Vereinigten Staaten Produktivitätsverluste von etwa 20 %.

Viele Ökonominnen und Ökonomen sind sich einig, dass der Verlust des Euroraums an Wettbewerbsfähigkeit in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass es den hiesigen Unternehmen nicht gelungen ist, sich die durch Informations- und Kommunikationstechnologie (kurz IKT) möglichen Effizienzsteigerungen zunutze zu machen.

Meine nächste Folie (Folie 4) zeigt, dass sich in den letzten 30 Jahren beim IT-bezogenen realen Kapitalstock eine eklatante Lücke zwischen dem Euroraum und den Vereinigten Staaten aufgetan hat.

Zwei Faktoren können erklären, weshalb es den Unternehmen im Euroraum nicht gelungen ist, von der IKT-Revolution zu profitieren, und warum sie ins Hintertreffen geraten sind.

Die Rolle des Wettbewerbs und der Kapitalmärkte

Ein Grund ist, dass das Geschäftsumfeld im Euroraum den Unternehmen Investitionen in IKT erschwert hat oder sie weniger dringlich erscheinen ließ.

Trotz bedeutender Fortschritte sind die Güter- und Arbeitsmärkte im Euroraum nach wie vor häufig stark reguliert. So sind die administrativen Anforderungen für Start-up-Unternehmen in vielen Euro-Ländern höher als in anderen Industrieländern.

Hohe Eintrittsbarrieren schützen die Renten etablierter Marktteilnehmer, reduzieren die Verbreitung neuer Technologien und hemmen den Markteintritt jüngerer Unternehmen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit für Innovationen sorgen.

Die linke Grafik meiner nächsten Folie (Folie 5) zeigt, dass jüngere Unternehmen im Euroraum im Durchschnitt fast dreimal so produktiv sind wie ihre älteren Wettbewerber.

Erklären lässt sich diese Lücke größtenteils durch junge Superstar-Firmen, die ihre Produktivität im Schnitt um rund 100 % pro Jahr steigern.

Die rechte Grafik veranschaulicht, dass diese Unternehmen mehr investieren als ihre Wettbewerber, insbesondere in immaterielle Vermögenswerte wie Software und Datenbanken. Darüber hinaus setzen sie weniger Arbeitskräfte ein, die dafür aber stärker spezialisiert sind.

Die Verbindung zwischen Unternehmensdemografie, Technologieverbreitung und Produktivitätswachstum ist im verarbeitenden Gewerbe besonders ausgeprägt.

In der linken Grafik meiner nächsten Folie (Folie 6) ist zu sehen, dass das Produktivitätswachstum von führenden Hightech-Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe in den letzten zehn Jahren deutlich zurückgegangen ist.

Dieser Rückgang ging mit einer messbaren Verlangsamung der Unternehmensdynamik einher. Die rechte Grafik zeigt, dass – den neuesten verfügbaren Daten zufolge – führende Hightech-Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe im Schnitt rund 50 % älter sind als vor der globalen Finanzkrise und doppelt so alt wie ihre Pendants im Dienstleistungssektor.

Dieser Mangel an „schöpferischer Zerstörung“ ist häufig mit einer geringeren Innovationstätigkeit verbunden.

Empirische Evidenz zeigt zudem, dass die Unternehmensgröße ein wichtiger Faktor für Investitionen in IKT ist, da die Fixkosten im Zusammenhang mit der Reorganisation von Prozessen kleine und mittlere Unternehmen besonders belasten.

Jedoch hindern höhere administrative Anforderungen jüngere Unternehmen oft daran zu expandieren. In Deutschland und anderen Volkswirtschaften des Euroraums greifen z. B. mehrere arbeitsrechtliche Bestimmungen erst ab einer bestimmten Mitarbeiterzahl.

Solche Anforderungen haben es Unternehmen im Euroraum erschwert, eine ausreichende Größe zu erreichen.

Auf meiner nächsten Folie (Folie 7) ist zu sehen, dass in den Vereinigten Staaten Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden für fast 60 % der Gesamtbeschäftigung verantwortlich sind. Im Euroraum liegt dieser Anteil zwischen 12 % und 37 %, wobei Deutschland am oberen Ende dieser Spanne rangiert.

Ebenso ist der Mangel an externem Kapital ein wesentlicher Faktor, der Unternehmen die Ausweitung ihres Geschäfts häufig erschwert.

Im Euroraum wird deutlich weniger Risikokapital investiert als in den Vereinigten Staaten. Daher haben viele innovative Unternehmen nach Eintritt in die Wachstumsphase mit Finanzierungsengpässen zu kämpfen.

Dies bewegt Unternehmen unter Umständen zur Abwanderung an Orte, an denen sie leichter an Finanzierungsmittel gelangen und die über tiefere Kapitalmärkte verfügen.

Die US-Management-Hypothese

Umfangreiche empirische Daten deuten indes darauf hin, dass nicht allein das Geschäftsumfeld das IKT-bezogene Produktivitätswachstum im Euroraum hemmt.

Tatsächlich verzeichnen in Europa tätige multinationale US-Konzerne deutlich höhere Produktivitätszuwächse durch IT als ihre europäischen Wettbewerber, obwohl das regulatorische Umfeld dasselbe ist. Dies ist offenbar darauf zurückzuführen, dass US-Unternehmen bei der Mitarbeiterführung regelmäßig besser abschneiden.

Die US-Management-Hypothese beruht auf der Beobachtung, dass die IT-Adaption von Veränderungen in der Organisation eines Unternehmens begleitet werden muss, damit die durch digitale Technologien möglichen Produktivitätszuwächse tatsächlich realisiert werden können.

Die Daten aus dem Euroraum stützen diese These.

Die linke Grafik meiner nächsten Folie (Folie 8) illustriert eindrucksvoll, dass es nur rund 30 % der Unternehmen im Euroraum gelingt, digitale Technologien so einzusetzen, dass sie sich mit der Zeit produktivitätssteigernd auswirken.

Dabei handelt es sich um die Unternehmen, die sich in der Nähe der technologischen Spitze befinden. Bei den meisten Unternehmen haben die IKT-Investitionen hingegen keine signifikanten Auswirkungen auf ihre Effizienz.

Digitale Technologien erfordern also ein hohes Maß an Human- und Managementkapital. In vielen Euro-Ländern hat jedoch ein erheblicher Anteil der erwachsenen Bevölkerung – in manchen Fällen mehr als ein Drittel – keinen sekundären Schulabschluss, wie die rechte Grafik veranschaulicht.

Derartige Bildungsengpässe können helfen zu erklären, weshalb sich viele Unternehmen bislang die Vorteile der IKT-Revolution nicht zunutze machen konnten.

Warum Europa dringend seine Wettbewerbsfähigkeit steigern muss

Die Ereignisse der letzten Jahre haben es noch dringlicher gemacht, dass Europa seinen Technologie-Rückstand aufholt.

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine belastet die preisliche Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen im Euroraum weiterhin.

In der linken Grafik auf der nächsten Folie (Folie 9) sehen Sie, dass die Strompreise für die Industrie in der EU heute mehr als doppelt so hoch sind wie in den Vereinigten Staaten und in China.

Die Produktion energieintensiver Güter ging daher in einem besorgniserregenden Tempo zurück, was die Position des Euroraums in traditionellen Industrien untergräbt. Dies lässt sich auf der rechten Seite gut erkennen.

Aus fossilen Brennstoffen gewonnene Energie dürfte vor dem Hintergrund steigender CO2-Preise mit der Zeit noch teurer werden. Europa kann seine Wettbewerbsfähigkeit deshalb auf lange Sicht nur zurückgewinnen, wenn es seine Abhängigkeit von fossilen Energieträgern verringert, indem es die grüne Transformation schneller vorantreibt.

Da jedoch CO2-intensive Sektoren wie der Bergbau, Raffinerien und die Luftfahrt bislang im Schnitt produktiver waren als „grüne“ Branchen, wird die Reallokation von Produktionsfaktoren zwischen Sektoren im Zuge der grünen Transformation auf kurze Sicht automatisch die gesamtwirtschaftliche Produktivität reduzieren.

Binnenwirtschaftliche Faktoren verstärken die Abschwächung der Produktivität im Euroraum.

So schreitet die Bevölkerungsalterung im Euroraum rasch voran, wie Sie in der linken Grafik auf der nächsten Folie sehen (Folie 10).

Der Altenquotient, also die Zahl der mindestens 65-Jährigen im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre), dürfte im Durchschnitt von 37 % im Jahr 2022 auf 60 % im Jahr 2070 steigen.

Die rasche Bevölkerungsalterung fällt mit einer Verschiebung bei den Präferenzen in der Gesellschaft zusammen – immer mehr Menschen wollen ihre Arbeitszeit verringern. Aus der rechten Grafik wird deutlich, dass die durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden je Arbeitnehmer seit den 1970er-Jahren einem säkularen Abwärtstrend folgen.

Wenn auf jeden älteren Menschen weniger Erwachsene im erwerbsfähigen Alter kommen, die zudem weniger Stunden arbeiten, muss die Produktivität je geleisteter Arbeitsstunde zunehmen, damit die sozialen Sicherungssysteme tragfähig bleiben.

Zudem beobachtet man einen besorgniserregenden Trend der Marktkonzentration, da sich die Produktivitätsgewinne aus der Digitalisierung nach wie vor auf einige wenige äußerst produktive Unternehmen beschränken.

Wie Sie in der linken Grafik auf der nächsten Folie (Folie 11) sehen, blieb der Median der Preisaufschläge der Unternehmen in den vergangenen 20 Jahren weitgehend unverändert, während sich der obere Rand der Verteilung der Preisaufschläge deutlich erhöht hat.

Solch eine Winner-takes-most-Dynamik, bei der die Gewinner die höchsten Aufschläge erzielen, lässt sich vor allem im Dienstleistungssektor beobachten: Dort hat sich die Produktivitätslücke zwischen Vorreiter- und Nachzügler-Unternehmen rasch ausgeweitet. Dies lässt sich auf der rechten Seite gut erkennen.

Die Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten deuten darauf hin, dass der Aufstieg sogenannter Superstar-Firmen, wie Apple, Amazon und Alphabet, weitreichende langfristige makroökonomische Folgen haben kann.

Wenn darüber hinaus einige Monopolrenten zunehmend außerhalb des Euroraums erwirtschaftet werden, steigert eine solche Winner-takes-most-Dynamik die Abhängigkeit inländischer Unternehmen von Drittländern beim Bezug von Technologien, was die strategische Autonomie beeinträchtigt.

Schließlich ist das Produktivitätswachstum auch ein wesentlicher Bestimmungsfaktor der mittelfristigen Inflation. Es wirkt sich also direkt auf die Geldpolitik aus.

In der linken Grafik auf der nächsten Folie (Folie 12) können Sie sehen, dass wir im Verlauf des letzten Jahres nach dem größten Inflationsschock der vergangenen Jahrzehnte erhebliche Fortschritte bei der Wiederherstellung der Preisstabilität erzielt haben. Das stärkt unsere Zuversicht, dass wir die Inflation zeitnah und nachhaltig zu unserem 2 %-Ziel zurückführen können.

Die rechte Grafik zeigt jedoch, dass ein anhaltend niedriges und sogar negatives Produktivitätswachstum die Effekte verstärkt, die sich aus dem aktuellen raschen Wachstum der Nominallöhne für die Lohnstückkosten der Unternehmen ergeben.

Dadurch steigt das Risiko, dass Unternehmen höhere Lohnkosten an die Verbraucher weitergeben, was eine Rückkehr der Inflation zu unserem 2 %-Ziel verzögern könnte. Tatsächlich ist die Teuerung bei den Dienstleistungen, die besonders lohnabhängig sind, anhaltend hoch.

In den kommenden Wochen und Monaten müssen wir daher genau beobachten, ob der zugrunde liegende Preisdruck wie prognostiziert nachlässt, sodass die Geldpolitik allmählich gelockert werden kann.

Auf mittlere Sicht tragen Maßnahmen zur Förderung des Produktivitätswachstums von Unternehmen also direkt dazu bei, dass die Geldpolitik Preisstabilität gewährleisten kann.

Wie lässt sich die Produktivität ankurbeln?

Was kann getan werden, um die Produktivität zu steigern?

Meine Diagnose des Problems hat gezeigt, dass das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum von zwei wichtigen Faktoren abhängt: Vom Einsatz und der Entwicklung von Technologien auf Unternehmensebene – das ist die Management-Hypothese – und von der Ressourcenallokation zwischen den Unternehmen – das heißt von der allgemeinen wirtschaftlichen Dynamik.

Ein Abbau der Ineffizienzen bei der Ressourcenallokation dürfte erhebliche positive Auswirkungen auf den Euroraum haben.

Auf der nächsten Folie (Folie 13) sehen Sie, dass beispielsweise in Italien die Produktivität des verarbeitenden Gewerbes Schätzungen zufolge insgesamt um rund 15 % höher ausfallen würde, wenn führende italienische Unternehmen so groß wären wie die globalen Referenzunternehmen.

Wenn die Voraussetzungen für ein Wachstum dieser Unternehmen geschaffen würden, könnte dies zu einem deutlichen Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstums führen.

Genau das war in den Vereinigten Staaten in den 1970er- und 1980er-Jahren zu beobachten. Die Forschung hat gezeigt, dass ein erheblicher Teil des Produktivitätswachstums im verarbeitenden Gewerbe in diesem Zeitraum einer Verlagerung der Produktion von weniger produktiven zu produktiveren Unternehmen geschuldet ist.

Anekdotische Evidenz legt nahe, dass auch der aktuelle Anstieg des Produktivitätswachstums in den Vereinigten Staaten auf eine solche Reallokation zurückzuführen sein könnte.

Im Euroraum sind aus meiner Sicht drei einander wechselseitig verstärkende Faktoren wesentlich, um die Fehlallokation von Ressourcen zu reduzieren und die Verbreitung neuer Technologien zu fördern.

Verbreitung von Kompetenzen durch stärkeren Wettbewerb

Erstens wird ein Regulierungsrahmen benötigt, der sich stärker dem Wettbewerb verschreibt und diesen fördert.

Wettbewerb spielt heute eine größere Rolle als im 20. Jahrhundert. Aus der Forschung wissen wir, dass ein stärkerer Wettbewerb mit einer deutlichen Verbesserung von Managementkompetenzen einhergeht. Letztere sind fundamental, wenn es darum geht, die Vorteile der Digitalisierung auszuschöpfen.

Um diese positive Dynamik in Gang zu setzen, müssen die Kosten des Markteintritts und der Expansion von Unternehmen sowie die Kosten zur Auflösung gescheiterter Unternehmen gesenkt werden.

Beispielsweise brauchen Gläubiger im Euroraum mit im Schnitt zwei Jahren mehr als doppelt so lang wie in den Vereinigten Staaten, um ihre Ansprüche bei Unternehmensinsolvenzen durchzusetzen.

Nach der Pandemie ist es noch wichtiger, die von Schumpeter beschriebene schöpferische Zerstörung zu fördern. Denn in den letzten Jahren schieden aufgrund staatlicher Hilfsmaßnahmen weniger Unternehmen aus dem Markt aus als in früheren Krisen, auch wenn sich dieser Prozess allmählich umzukehren beginnt.

Binnenmarkt stärken und Integration fördern

Zweitens müssen die Integration im Euroraum gefördert und Zölle und sonstige Maßnahmen, die den internationalen Handel beschränken, vermieden werden.

In größeren Märkten können Unternehmen leichter Größenvorteile erzielen, und sie sind in der Regel innovativer.

Allerdings hat auf globaler Ebene die Zahl neuer tarifärer und nicht-tarifärer Handelshemmnisse, die von G-20-Ländern angekündigt wurden, seit 2012 kontinuierlich zugenommen und ist während der Pandemie weiter massiv angestiegen (Folie 14). 2023 unterlagen mehr als 40 % der Ausfuhren von G-20-Ländern Handelshemmnissen, verglichen mit 16 % im Jahr 2009.

Vor diesem Hintergrund wächst die Bedeutung des europäischen Binnenmarkts. Dieser ermöglicht es den europäischen Unternehmen, an Größe zu gewinnen und in einem Winner-takes-most-Umfeld erfolgreich zu sein.

Die europäische Integration ist aber nach wie vor enttäuschend, insbesondere bei den Dienstleistungen, die etwa 70 % des BIP der EU ausmachen. Aus der linken Grafik auf der nächsten Folie (Folie 15) geht hervor, dass der Dienstleistungshandel innerhalb der EU nur rund 15 % des BIP entspricht. Bei den Gütern sind es über 50 %.

Auch die europäischen Finanzmärkte sind nach wie vor entlang nationaler Grenzen segmentiert.

Die rechte Grafik zeigt, dass die Finanzintegration im Euroraum mehr oder weniger auf dem Stand der Anfangsjahre der Währungsunion verharrt ist. Dies trägt zur Fehlallokation von Kapital bei und reduziert das Potenzial einer Risikoteilung unter den Ländern.

Die Forschung zeigt, dass man die Verbreitung von Technologie durch tiefere und stärker integrierte Kapitalmärkte messbar steigern könnte: Ein besserer Zugang zu Kapital kann den Abstand zu den technologischen Vorreitern um 5 % bis 7 % verringern.

Bei der EZB haben wir wiederholt darauf hingewiesen, zuletzt in einer Rede von Präsidentin Lagarde, dass es für den Erfolg der grünen und digitalen Transformation unerlässlich ist, dass zeitnah Fortschritte hin zu einer echten Kapitalmarktunion erzielt werden.

Eine Harmonisierung von Regelungen und Konsolidierung von Marktinfrastrukturen sowie die Wiederbelebung des Verbriefungsmarkts würden bereits wesentlich zur Verringerung der Segmentierung und zu einem besseren Zugang zu Mitteln der Außenfinanzierung beitragen.

Ebenso wichtig ist, dass die Bankenunion vollendet wird, denn Banken spielen immer noch eine dominante Rolle für die Finanzierung der Wirtschaft im Euroraum. Seit Einrichtung der EZB-Bankenaufsicht im Jahr 2014 sind wir bei der Schaffung der Voraussetzungen für eine reibungslose grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit der Banken jedoch kaum vorangekommen.

Auf der nächsten Folie (Folie 16) sehen Sie, dass die gesamten von Banken, insbesondere über Tochtergesellschaften, gehaltenen grenzüberschreitenden Aktiva in der EU deutlich unter dem vor der Staatsschuldenkrise verzeichneten Niveau bleiben.

Zur Vertiefung der Bankenunion bedarf es zweierlei.

Zum einen müssen regulatorische Hindernisse ausgeräumt werden, die nach wie vor die Konsolidierung und den Wettbewerb über Grenzen hinweg erschweren.

Zu diesen Hindernissen zählen fragmentierte Steuer- und Insolvenzregelungen sowie die begrenzte grenzüberschreitende Fungibilität von Kapital und Liquidität innerhalb ein und derselben Bankengruppe aufgrund von Abschottungsmaßnahmen seitens der nationalen Behörden.

Der Abbau solcher Hindernisse braucht Zeit. Schnellere Erfolge ließen sich erzielen, indem Banken stärker auf Niederlassungen setzen, anstatt ihre Dienstleistungen über Tochtergesellschaften anzubieten. Hierzu hat die EZB-Bankenaufsicht bereits wichtige Vorschläge gemacht, um die Nutzung von Niederlassungen zu erleichtern.

Weitere Maßnahmen wären der Abschluss der Ratifizierung des geänderten Vertrags zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie die Schaffung eines europäischen Einlagensicherungssystems (European Deposit Insurance Scheme – EDIS).

Bislang bleiben nationale staatliche Sicherungsmechanismen der letzte Rettungsanker für die Banken. Das zementiert den Staaten-Banken-Nexus, der den Euroraum vor über zehn Jahren in eine tiefe Krise stürzte.

Fortschritte bei der Risikoteilung über EDIS müssen von einer stärkeren Marktdisziplin flankiert werden, um negativen Anreizen entgegenzuwirken und die Risikoteilung aus politischer Sicht attraktiver zu machen.

Daher müssen sowohl Risikoteilung als auch Marktdisziplin gestärkt werden, so wie im deutsch-französischen „7 plus 7“-Bericht von 2018 gefordert, dessen Kernaussagen nicht an Relevanz eingebüßt haben.

Öffentliche Investitionen ausweiten

Drittens müssen zur Bewältigung akuter struktureller Herausforderungen die öffentlichen Investitionen ausgeweitet werden. Zu diesen Herausforderungen zählen die grüne Transformation, die territoriale Sicherheit, die Digitalisierung und ein zunehmender Fachkräftemangel.

Aufgrund der Komplementaritäten zwischen öffentlichen und privaten Investitionen wird eine Kapitalvertiefung der Unternehmen allein nicht ausreichen, um die Produktivität anzukurbeln.

Die öffentliche Investitionstätigkeit im Euroraum ist seit geraumer Zeit niedrig. Die linke Grafik auf der nächsten Folie (Folie 17) zeigt, dass sich nach der Staatsschuldenkrise eine deutliche Lücke zwischen den öffentlichen Investitionen im Euroraum und in den Vereinigten Staaten aufgetan hat.

Vor diesem Hintergrund begrüßt die EZB die Einigung im Europäischen Parlament und im Rat auf neue europäische Fiskalregeln, die eine Balance zwischen der Notwendigkeit zur Schuldentragfähigkeit einerseits und Anreizen zu Investitionen und Strukturreformen andererseits zu finden versucht.

Nun ist es an den Regierungen, die neuen Regelungen vollständig umzusetzen. Neben Konsolidierungsanstrengungen bedeutet dies, dass sie die in ihren nationalen Aufbau- und Resilienzplänen gemachten Reform- und Investitionszusagen erfüllen, die den Kern des Programms „Next Generation EU“ (NGEU) bilden.

Da ein Großteil der Mittel in öffentliche Investitionsprojekte fließt, darunter Aus- und Weiterbildung, kann das NGEU-Programm einen wesentlichen Beitrag zur Produktivitätssteigerung im Euroraum leisten.

Im Euroraum beläuft sich die finanzielle Unterstützung aus den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen auf 513 Milliarden €, das entspricht fast 4,1 % des BIP.

Schätzungen von EZB-Experten in der rechten Grafik deuten darauf hin, dass das NGEU-Programm das Produktivitätswachstum in den kommenden Jahren messbar steigern könnte.

Hierzu müssen jedoch alle gemachten Zusagen auch umgesetzt werden.

Tatsächlich werden Reformen und Investitionsvorhaben in der gesamten EU aktiv verfolgt. Die letzte Folie (Folie 18) zeigt: Das Ergebnis der Beurteilung von rund 650 reformbezogenen Meilensteinen und Zielen zum Ende des ersten Quartals 2024 war, dass sie in zufriedenstellender Weise erreicht wurden.

Um das Reformtempo zu halten, sollte in Bezug auf die Ausgestaltung der Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility – RRF) zwei Aspekten besondere Beachtung geschenkt werden.

Der eine ist der Verwaltungsaufwand. Zum Schutz der finanziellen Interessen der EU bedarf es eines wirksamen Systems von Prüfungen und Kontrollen. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass dieses System die nationalen Verwaltungen vor gewaltige Herausforderungen stellt und sich Zahlungsanträge infolgedessen oft verzögern.

Der andere Aspekt ist der möglicherweise zu ehrgeizige Zeithorizont des NGEU-Programms. So müssen sämtliche Mittel bis spätestens 2026 abgerufen werden. Zwar sollte man bei der Produktivitätsförderung und im Kampf gegen den Klimawandel keine Zeit verlieren, allerdings könnte die übereilte Umsetzung von Investitionsprojekten zu Lieferengpässen und nachfragebedingtem Preisdruck führen und mit dem Risiko einhergehen, dass Projekte ausgewählt werden, die sich leicht umsetzen lassen und der Finanzierung staatlichen Konsums statt staatlicher Investitionen dienen.

Diese Aspekte gilt es genau zu durchdenken, denn ein Scheitern des NGEU-Programms können wir uns nicht erlauben. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, auch für die EZB.

Mit dem NGEU-Programm hat der Euroraum vorübergehend drei wichtige Lücken in der institutionellen europäischen Architektur geschlossen:

  1. Erstens steht über gemeinsame Mittel ein zentrales finanzpolitisches Stabilisierungsinstrument zur Verfügung, das die Geldpolitik unterstützen kann.
  2. Zweitens wird durch die Koordinierung strategischer Investitionsentscheidungen auf europäischer Ebene eine stärkere Integration erreicht.
  3. Dritten werden die Liquidität von EU-Anleihen erhöht und Kapitalmärkte im Euroraum vertieft, sodass Fortschritte auf dem Weg zur Schaffung einer sicheren europäischen Anlageform erzielt werden.

Wie effektiv die Regierungen die NGEU-Mittel einsetzen, um die europäischen Volkswirtschaften für die anstehenden Herausforderungen zu wappnen, wird daher richtungsweisend für den künftigen Pfad der europäischen Integration sein.

Fazit

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

Wie Paul Krugman feststellte, ist Produktivität nicht alles, aber auf lange Sicht ist sie fast alles. Die europäischen Staats- und Regierungschefs erkannten dies schon vor mehr als 20 Jahren, als sie die Lissabon-Strategie verabschiedeten. Die bislang erzielten Fortschritte sind jedoch letztlich enttäuschend.

Ein wachsender wirtschaftlicher Nationalismus, Bedrohungen unserer territorialen Sicherheit und eine wachsende technologische Kluft zwischen Europa und anderen Industrieländern machen es zunehmend dringlicher, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Die wirtschaftspolitischen Reaktionen auf die Pandemie und den Krieg in der Ukraine zeigen, dass Europa durchaus in der Lage ist, in schwierigen Situationen an einem Strang zu ziehen.

Um vom Nachzügler zum Vorreiter zu werden, bedarf es einer positiven Dynamik zwischen öffentlichen und privaten Investitionen einerseits und dem Produktivitätswachstum andererseits. Dies beginnt mit der vollständigen Umsetzung früherer Zusagen im Rahmen von NGEU. Maßnahmen zur Stärkung des Wettbewerbs, zum Abbau von Bürokratie und zur Förderung der weiteren Integration der Güter-, Arbeits- und Finanzmärkte müssen Priorität erhalten.

Diese Maßnahmen würden dabei helfen, Kapital und Arbeit ihrer produktivsten Nutzung zuzuführen, etablierte Akteure herauszufordern und Hemmnisse zu beseitigen, aufgrund derer junge, produktive Unternehmen nicht ihr volles Potenzial entfalten können.

Aus Sicht der Geldpolitik gilt zudem: Wenn Europa in Sachen Produktivität eine führende Rolle spielt, hilft dies auch der EZB bei der Gewährleistung von Preisstabilität.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. Die vorliegende Rede ist eine gekürzte Fassung einer am 16. Februar 2024 am European University Institute in englischer Sprache gehaltenen Rede. Detaillierte Quellenangaben sind der ursprünglichen Rede zu entnehmen.

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14 May 2024