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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
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Der Weg vor uns

Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, auf der Konferenz „The ECB and Its Watchers XXIII“

Frankfurt am Main, 22. März 2023

Der Euroraum ist von einem Inflationsschock getroffen worden, der sich nun durch die Wirtschaft fortsetzt. Dank rückläufiger Energiepreise und abnehmender Lieferengpässe dürfte die Gesamtinflation in diesem Jahr deutlich sinken, die zugrunde liegende Inflation entwickelt sich aber nach wie vor dynamisch.

Unser oberstes Ziel in einem solchen Umfeld ist klar: Wir müssen die Inflation zeitnah zu unserem mittelfristigen Ziel zurückführen. Und das werden wir auch.

Damit uns dies gelingt, brauchen wir eine solide Strategie, die auch die derzeit hohe Unsicherheit berücksichtigt. John Maynard Keynes war der Auffassung, es sei töricht, wenn wir unsere Erwartungen bilden und dabei sehr ungewissen Umständen viel Gewicht beimessen.

In Zeiten wie diesen muss eine solide Strategie auf einem datengestützten Ansatz für die geldpolitische Beschlussfassung und einer klaren Reaktionsfunktion beruhen, damit für die Öffentlichkeit ersichtlich ist, welche Informationsquellen für uns wichtig sein werden.

Drei Faktoren werden ausschlaggebend für unseren künftigen geldpolitischen Kurs sein: Unsere Einschätzung der Inflationsaussichten vor dem Hintergrund aktueller Wirtschafts- und Finanzdaten, die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation sowie die Stärke der geldpolitischen Transmission.

Dabei gilt jedoch, dass kein Zielkonflikt zwischen Preis- und Finanzstabilität besteht. Wir verfügen über eine Reihe von Instrumenten, mit denen wir das Finanzsystem erforderlichenfalls mit Liquiditätshilfen unterstützen und die reibungslose Transmission der Geldpolitik aufrechterhalten können.

In meinen heutigen Ausführungen möchte ich auf den bisherigen und den künftigen geldpolitischen Pfad eingehen. Überdies werde ich die Reaktionsfunktion erläutern, nach der sich unsere künftigen Leitzinsentscheidungen richten werden.

Rückblick

Im vergangenen Jahr zog die Inflation im Euroraum kräftig und auf breiter Front an, da hinter ihr zwei Arten von Schocks standen, die die Wirtschaft zur selben Zeit trafen:

Zum einen hatten wir es mit einer beispiellosen Kette negativer Angebotsschocks zu tun, die auf pandemiebedingte Lieferkettenstörungen, die Invasion Russlands in der Ukraine sowie die daraus resultierende Energiekrise zurückzuführen waren. Dies trieb die Vorleistungskosten in sämtlichen Wirtschaftssektoren in die Höhe.

Zum anderen kam es nach der Pandemie durch die Wiederöffnung der Wirtschaft zu einem positiven Nachfrageschock. In diesem günstigen Nachfrageumfeld konnten Unternehmen ihre gestiegenen Vorleistungskosten viel schneller und in höherem Maße als zuvor über die Preise weiterreichen.[1]

Unsere Ausgangssituation war ein äußerst akkommodierender geldpolitischer Kurs, der auf die im letzten Jahrzehnt sehr niedrige Inflation und die deflationären Risiken zu Beginn der Pandemie ausgelegt war. Da er nicht mehr zu den neuen Gegebenheiten passte, mussten wir ihn schnellstmöglich anpassen.

Anfangs waren deshalb klare Signale besonders wichtig: Wir mussten zeigen, dass die Geldpolitik die erforderliche Anpassung entschlossen angehen wird – durch entsprechende Maßnahmen und Bekenntnisse.

Aus diesem Grund war uns das Tempo unserer Maßnahmen sehr wichtig, und wir haben die Zinsen in großen Schritten erhöht. Zudem kommunizierten wir einen klaren Fahrplan für die Leitzinserhöhungen, damit die Öffentlichkeit sich sicher sein konnte, dass die Geldpolitik die Inflation bekämpft und die Leitzinsen bald nicht mehr im akkommodierenden Bereich liegen würden. In gewisser Hinsicht war ein Fokus auf die datengestützte Ausrichtung weniger wichtig, da in allen Szenarien eine umfangreiche Anpassung der Geldpolitik erforderlich war.

Die Entwicklung der Inflationsaussichten zeigte dann jedoch, dass es mit der Normalisierung der Geldpolitik – und somit mit dem Erreichen eines weitgehend neutralen Kurses – allein nicht getan sein würde. Das Zusammentreffen der Schocks wirkte sich in zweierlei Weise aus – auf den Abstand der Inflation vom Zielwert und auf die Dauer einer höheren Inflation. Dies machte weitere geldpolitische Maßnahmen erforderlich.

Zum einen vergrößerte sich aufgrund der Schocks der Abstand der Inflation zu unserem Ziel. Auch wenn die Inflation ihren Höchstwert überschritten haben dürfte und das sehr hohe Niveau nun hinter sich lässt, wird sie den Projektionen zufolge für zu lange Zeit auf einem zu hohen Niveau über unserem Zielwert bleiben. Je länger die Inflation zu hoch ist, desto größer die Gefahr, dass dies auch so bleibt.

Zum anderen erhöhte sich aufgrund der Schocks auch das Risiko, dass die Inflation für längere Zeit über unserem Zielwert bleibt. Insbesondere hat der Preisdruck an Breite und Intensität gewonnen. Von uns beobachtete Messgrößen der zugrunde liegenden Inflation liegen derzeit zwischen 4 % und 8 %.

In dieser Situation mussten wir die Zinsen auf ein hinreichend restriktives Niveau anheben, um auf diese Weise die Nachfrage zu dämpfen. So behielten wir die Inflationserwartungen unter Kontrolle und konnten sicherstellen, dass sie verankert bleiben.

Dies ist einer der wesentlichen Gründe, warum wir uns dazu verpflichtet haben, die Leitzinsen in den letzten Sitzungen deutlich und in gleichmäßigem Tempo anzuheben. Und auch, warum wir letzte Woche beschlossen, dass eine weitere Zinserhöhung um 50 Basispunkte notwendig war.

Der geldpolitische Pfad vor uns

Eine beträchtliche geldpolitische Anpassung liegt bereits hinter uns: Seit Juli letzten Jahres haben wir die Leitzinsen um insgesamt 350 Basispunkte erhöht. Die Inflation ist allerdings nach wie vor hoch, und die Unsicherheit bezüglich ihrer weiteren Entwicklung hat weiter zugenommen. Folglich ist für die Zukunft eine solide Strategie unabdingbar.

Eine solche Strategie setzt sich aus drei Komponenten zusammen.

Erstens ist es bei erhöhter Unsicherheit noch wichtiger, dass sich der Zinspfad nach der Datenlage richtet. Dies bedeutet zuallererst, dass wir nicht darauf festgelegt sind, die Zinsen weiter anzuheben, und dass wir auch nicht am Ende der Zinserhöhungen angelangt sind. Wie ich letzte Woche gesagt habe: Wenn sich das Basisszenario unserer jüngsten Projektionen bestätigen sollte, bleibt noch einiges zu tun, um sicherzugehen, dass wir den Inflationsdruck beseitigt haben.

Zweitens ist der europäische Bankensektor zwar dank starker Kapital- und Liquiditätspositionen widerstandsfähig, angesichts der aktuellen Marktspannungen sind wir aber bereit, das Finanzsystem erforderlichenfalls mit Liquiditätshilfen zu unterstützen und die reibungslose Transmission der Geldpolitik aufrechtzuerhalten.

Eines steht fest: Es gibt keinen Zielkonflikt zwischen Preis- und Finanzstabilität. Wir haben mehrfach bewiesen, dass wir dazu in der Lage sind, einen zur Steuerung der Inflation angemessenen geldpolitischen Kurs einzuschlagen und gleichzeitig mit anderen Instrumenten den Risiken für die geldpolitische Transmission entgegenzuwirken.

Genau das haben wir getan, als wir uns bei den Reinvestitionen im Rahmen des Pandemie-Notfallankaufprogramms für mehr Flexibilität entschieden und uns auf das Instrument zur Absicherung der Transmission einigten. Diese Programme sorgten dafür, dass die Zinsnormalisierung reibungslos ablaufen konnte.

Die dritte Komponente einer soliden Strategie ist eine klare Reaktionsfunktion. Bei unserer letzten Sitzung haben wir unsere Reaktionsfunktion näher erläutert und präzisiert, welche Informationsquellen für uns wichtig sein werden. Die künftige Kalibrierung des Zinspfads wird im Wesentlichen von drei Faktoren abhängen, die kontinuierlich beobachtet werden müssen, und auf diese Faktoren werde ich im Folgenden näher eingehen.

Inflationsaussichten

Der erste Faktor ist unsere Einschätzung der Inflationsaussichten unter Berücksichtigung der aktuellen Wirtschafts- und Finanzdaten. Hierbei spielen vor allem die Inflationsprojektionen unserer Fachleute eine Rolle.

Aufgrund der Verzögerungen, mit denen unsere Maßnahmen ihre Wirkung entfalten, muss die Geldpolitik auf die Zukunft ausgerichtet sein. Die von unseren Fachleuten ausgearbeiteten Inflationsprojektionen sind der beste Weg, aus aktuellen Wirtschafts- und Finanzdaten ein umfassendes Bild der mittelfristigen Inflationsentwicklung zu gewinnen. Der künftige Zinspfad wird davon abhängen, ob sich die Inflation in unseren Projektionen dauerhaft unserem Ziel annähert und wie groß unser Vertrauen in diese Annäherung ist, das im Verhältnis der Risiken zueinander zum Ausdruck kommt.

Laut unseren jüngsten Projektionen wird die Gesamtinflation im Jahr 2025 bei 2,1 % und die Kerninflation bei 2,2 % liegen. Die beiden Werte wurden gegenüber den vorhergehenden Projektionen vom Dezember 2022 nach unten korrigiert. Allerdings ist das Konfidenzband um diese Projektionen derzeit breiter als sonst.

Da der Redaktionsschluss für die Projektionen Anfang März war, enthalten sie die Auswirkungen der jüngsten Finanzmarktspannungen noch nicht. Diese Spannungen haben zu neuen Abwärtsrisiken und einer größeren Unschärfe bei der Risikobewertung geführt. Ganz allgemein liegen den Projektionen viele volatile Annahmen zugrunde, wie beispielsweise Annahmen zur Finanzpolitik und zu den Preisen für Energie und Nahrungsmittel. Das bedeutet, dass im Basisszenario zusätzliche Unsicherheit in Bezug auf Wachstum und Inflation besteht.

Ein Teil dieser Unsicherheit dürfte sich geben, sobald die Auswirkungen der jüngsten Finanzmarktereignisse besser abzusehen sind. In Anbetracht sich überlagernder Schocks und geopolitischer Veränderungen dürfte die Unsicherheit jedoch hoch bleiben. Um die Aussichten in unseren Projektionen im Zeitverlauf überprüfen zu können, müssen wir weitere Indikatoren berücksichtigen, die sich in Echtzeit überprüfen lassen.

Zugrunde liegende Inflation

Der zweite Faktor, auf den wir uns stützen werden, ist die Dynamik der zugrunde liegenden Inflation.

Die zugrunde liegende Inflation ist kein geldpolitisches Ziel, doch wir können einige ihrer Messgrößen für eine zusätzliche Gegenprüfung in unserem Prognoseprozess einsetzen. Die zugrunde liegende Inflation ist in der Regel recht träge und gibt somit einen Hinweis zur mittelfristigen Dauer der Inflation. Damit wir sicher sein können, dass sich die Inflation mittelfristig unserem Zielwert annähert, muss bei den Messgrößen der zugrunde liegenden Inflation ein nachhaltiger Abwärtstrend zu erkennen sein.

Bislang gibt es keine klaren Anzeichen für einen Abwärtstrend bei der zugrunde liegenden Inflation. Vielmehr beobachten wir, dass zwei Kräfte in unterschiedlicher Richtung auf sie einwirken.

Einerseits sorgen die rückläufigen Energiepreise dafür, dass ein wichtiger Bestimmungsfaktor des Auftriebs der zugrunde liegenden Inflation an Bedeutung verliert. Die Preise für Energieimporte trugen in allen Wirtschaftssektoren wesentlich dazu bei, die Inflation in die Höhe zu treiben, was mit dem enormen Energiepreisschock zusammenhing. Daher zeichnet sich bei Messgrößen der zugrunde liegenden Inflation, die die länger anhaltenden Auswirkungen der Energiekosten abbilden, bereits ein Rückgang ab.[2]

Andererseits könnte ein Teil dieses disinflationären Impulses durch einen zunehmenden inländischen Preisdruck wieder aufgehoben werden. Messgrößen der zugrunde liegenden Inflation, die konjunkturreagible Elemente – beispielsweise Supercore[3] – oder Elemente mit geringem Importgehalt abbilden, legen weiterhin zu. Setzt sich dieser Trend fort und zieht die derzeit niedrige gesamtwirtschaftliche Nachfrage wieder an, so könnte es sein, dass nicht mehr die Importpreise, sondern die inländischen Preise ausschlaggebend dafür sind, dass der Preisdruck insgesamt hoch bleibt.

Welche der beiden Kräfte am Ende die Oberhand gewinnt, hängt vor allem von der Lohnentwicklung ab.

Aufgrund der steigenden Energiepreise haben sich die Terms of Trade im Euroraum deutlich verschlechtert. Die Kosten hierfür müssen sich letzten Endes Unternehmen und Arbeitnehmer teilen. Und es ist wichtig, dass diese beiden Parteien die Last gerecht teilen. Beide müssen akzeptieren, dass das Einkommen, das das Eurogebiet der übrigen Welt gezahlt hat, und der damit verbundene Produktionsrückgang sich nicht wieder vollends wettmachen lassen.

Bisher sind die Reallöhne deutlich gesunken, während die Unternehmen in vielen Sektoren höhere Gewinnmargen erzielen konnten. Allerdings ist die Lage am Arbeitsmarkt ziemlich angespannt, der Arbeitskräftemangel nimmt zu und der Terms-of-Trade-Schock hat sich größtenteils wieder umgekehrt. Infolgedessen nutzen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Verhandlungsposition, um Einkommensverluste auszugleichen.

In den sieben Ländern, die der Indikator der EZB zur Messung der Lohnentwicklung umfasst[4], konnte 2022 durch Tarifverhandlungen eine Lohnerhöhung von insgesamt 4,7 % für 2023 erzielt werden. Dies spielt bei der Kerninflation schon jetzt eine größere Rolle. Während die lohnreagiblen Komponenten[5] in der Zeit vor der Pandemie nur etwa 0,5 Prozentpunkte zur Kerninflation beisteuerten, hat sich ihr Beitrag in den letzten Monaten mehr als verdoppelt.

Wenn sowohl die Arbeitnehmerseite als auch die Unternehmen akzeptieren, dass sie die Last zu gleichen Teilen schultern müssen, und wenn das kräftigere Lohnwachstum lediglich auf eine Umverteilung zwischen Arbeit und Kapital zurückzuführen ist, so sollte der Druck auf Löhne und Preise in diesem Prozess allmählich nachlassen. Versucht hingegen jede Seite für sich, ihre Verluste zu minimieren, so könnte es dazu kommen, dass höhere Gewinnmargen, Löhne und Preise sich gegenseitig in die Höhe treiben.

Das Risiko eines gegenseitigen Hochschaukelns steigt auch durch die Aussicht, dass die angespannte Lage am Arbeitsmarkt länger anhält.

Anders als in anderen Teilen der Welt ist die Erwerbsbeteiligung im Euroraum seit letztem Jahr kräftig gestiegen.[6] Dadurch konnte ein Teil der deutlich höheren Nachfrage abgefedert werden, die im Zuge der Wiederöffnung der Wirtschaft entstanden ist. Die Pandemie hat überdies zu einem erheblichen Anstieg der Beschäftigung im öffentlichen Sektor geführt[7], wodurch das Arbeitskräfteangebot für den privaten Sektor geschrumpft ist. Wie stark das Arbeitskräfteangebot noch zunehmen kann, wird u. a. von komplexen politischen Fragen wie der Haltung der Länder bei Themen wie Einwanderung und Kinderbetreuung abhängen.

Die Arbeitslosenquote ist derzeit auf einem historischen Tiefstand. In einigen Ländern ist sie so niedrig, dass es zunehmend schwierig wird, den Bedarf mit den verbleibenden Arbeitskräften zu decken.

Es könnte also sein, dass es aufgrund von Lohnsteigerungen zu länger andauernden kostentreibenden Schocks kommt. Da die Löhne im verarbeitenden Gewerbe nur rund 20 % der direkten Vorleistungskosten ausmachen, wird dies einen Preisrückgang bei Gütern wohl nicht verhindern. Bei den Dienstleistungsunternehmen entfallen hingegen rund 40 % der direkten Vorleistungskosten auf die Löhne. Und die Inflation bei den Dienstleistungen ist wiederum für fast zwei Drittel der Kerninflation verantwortlich.

Gleichzeitig bauen die Unternehmen ihre Gewinnmargen weiter aus. Zum Teil ist dies darauf zurückzuführen, dass einige von ihnen das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage ausnutzen, um die Konsumnachfrage mit deutlich über den gestiegenen Kosten liegenden Preiserhöhungen zu testen. Da die Marktmacht nicht dauerhaft zunimmt[8], kann diese Situation jedoch nur so lange andauern, wie die Nachfrage robust bleibt. Ist dies nicht mehr der Fall, so werden die Unternehmen ihre Gewinnspannen reduzieren müssen, um Kostensteigerungen abzufedern, und der Preisdruck wird allmählich nachlassen.

Hier kommt der dritte Faktor ins Spiel, den wir bei der Festlegung des Zinspfads berücksichtigen, nämlich, wie gut es uns gelingt, durch die Transmission unserer geldpolitischen Maßnahmen die Nachfrage zu dämpfen.

Geldpolitische Transmission

Ende 2022 ging die Nachfrage deutlich zurück, und die jüngsten Daten, beispielsweise zu den Einzelhandelsumsätzen, deuten darauf hin, dass die Konsumausgaben noch nicht wieder angezogen haben. Nichtsdestotrotz wurden Kostensteigerungen weitergegeben. So war im Februar zu beobachten, dass kurzfristige Messgrößen der Kerninflation – beispielsweise die Inflationsrate gegenüber dem Vorquartal – anstiegen.

Es gibt zwei Faktoren, die für diese offensichtliche Widerstandsfähigkeit verantwortlich sein könnten.

Der erste Faktor sind die ungewöhnlichen Puffer für Konsumausgaben, die private Haushalte im aktuellen Umfeld haben. Sie profitieren noch immer von den umfangreichen finanzpolitischen Hilfsmaßnahmen, mit denen die Bürgerinnen und Bürger vor steigenden Energiepreisen geschützt werden sollen. Diese belaufen sich für 2022 und 2023 auf rund 250 Mrd. €. Außerdem haben die privaten Haushalte nach wie vor 900 Mrd. € an Ersparnisüberschüssen, die sich während der Pandemie angesammelt haben.[9]

Kommen wir nun zum zweiten Faktor: Der Arbeitsmarkt reagiert nicht mehr so stark auf die Wachstumsverlangsamung. Dies stützt die Arbeitseinkommen und die Beschäftigungserwartungen der privaten Haushalte. Unternehmen reagieren wegen des Arbeitskräftemangels auf eine schwächere Nachfrage zunächst durch Arbeitskräftehortung. Sie bauen also keine Arbeitsplätze ab, sondern reduzieren die geleisteten Arbeitsstunden weiter.

Und nun dürfte das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte aufgrund fallender Energiepreise und steigender Löhne zunehmen. Da die jüngsten Finanzmarktspannungen bei der Erstellung der Projektionen noch nicht abzusehen waren, gingen wir dort von einer stärkeren Erholung im laufenden Jahr aus.

Damit der Inflationsdruck abnimmt, ist es also wichtig, dass unsere Geldpolitik robust in eine restriktive Richtung wirkt. Und dieser Prozess beginnt nun langsam seine Wirkung zu entfalten.

Der erste Teil des geldpolitischen Transmissionsprozesses – von den geldpolitischen Maßnahmen hin zu den Finanzierungs- und monetären Bedingungen – zeigt bereits deutlich Wirkung. Die Kreditkosten ziehen merklich an, und die Kreditdynamik scheint sich rascher abzuschwächen als in früheren Zinserhöhungszyklen. Das Wachstum der Kreditvergabe an Unternehmen ist seit dem dritten Quartal 2022 deutlich zurückgegangen.

Auch die Geldmenge hat sich verringert: Das jährliche Wachstum von M1 fällt dabei erstmals seit Schaffung des Euroraums negativ aus – wobei dies vor dem Hintergrund höherer Zinssätze u. a. auf die Umschichtung von Mitteln aus täglich fälligen Einlagen in besser verzinste Termineinlagen zurückzuführen ist.

Was den zweiten Teil des Transmissionsprozesses betrifft – von restriktiveren Finanzierungs- und monetären Bedingungen hin zur Nachfrage –, so ist dieser derzeit mit größerer Unsicherheit behaftet. Wir wissen, dass sich erst mit der Zeit zeigen wird, wie die Geldpolitik die Nachfrage insgesamt beeinflusst hat. Aber sowohl Stärke als auch Geschwindigkeit dieser Transmission könnten sich verändert haben.

Seit dem letzten größeren Erhöhungszyklus der EZB Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends hat sich die Finanzstruktur des Euro-Währungsgebiets verändert. Der Anteil variabel verzinslicher Immobilienkredite ist zurückgegangen. Dadurch verlangsamt sich die Weitergabe von Zinserhöhungen an Tilgungszahlungen. Auch der Ersparnisüberschuss und das geringe Durchwirken auf die Einlagesätze könnten dazu führen, dass die privaten Haushalte heute weniger Anreize haben, bei höheren Leitzinsen einen größeren Teil ihres Einkommens zu sparen. Diese Faktoren könnten dazu führen, dass die Transmission auf den Konsum schwächer ausfällt.

Zugleich war der Wechsel bei den Zinsen sehr abrupt. Lange Zeit waren sie niedrig, nun ist das Zinsniveau deutlich höher. Es zeichnet sich bereits ab, dass dies Auswirkungen auf Nachfragekomponenten hat, die rascher auf Zinsänderungen reagieren, beispielsweise die Investitionstätigkeit. Die Wohnungsbauinvestitionen sind in den letzten drei Quartalen gesunken, und auch die Unternehmensinvestitionen verringerten sich Ende des vergangenen Jahres. Heute spielen Sektoren, die sich auf diskontierte künftige Erträge verlassen, wie beispielsweise der Technologiesektor, eine größere Rolle, was ebenfalls zur Stärkung der geldpolitischen Transmission beitragen könnte.

Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten sorgfältig beobachten müssen, ob es zu einer weiteren Stärkung der Transmission kommt. Wenn die Banken beispielsweise damit anfangen, eine größere Intermediationsdifferenz zugrunde zu legen – wenn sie also bei einem beliebigen Basissatz eine höhere Entschädigung für das wahrgenommene Risiko verlangen, das sie bei der Kreditvergabe eingehen –, dann könnte dies die Transmission stärken.

Wir werden daher eine Reihe von Indikatoren zur Kreditverfügbarkeit und zur Kreditbepreisung genau im Auge behalten, wie beispielsweise monatliche Angaben zu Geldmengen- und Kreditveränderungen, unsere Umfrage zum Kreditgeschäft und unsere Umfrage über den Zugang kleiner und mittlerer Unternehmen zu Finanzmitteln.

Restriktivere Kreditkonditionen sind Teil des Mechanismus, über den unsere Straffung schließlich einen übermäßigen Preisdruck eindämmt und die Inflation zum Zielwert zurückführt. Wir werden aber dafür sorgen, dass dieser Prozess stets geordnet abläuft.

Schlussbemerkungen

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

Von Voltaire stammt der Ausspruch: „Zweifel ist keine angenehme Voraussetzung, aber Gewissheit ist eine absurde“. Wir stehen vor neuen und sich überlagernden Schocks. Deshalb bleibt uns heute nichts anderes übrig, als uns der Unsicherheit zu stellen.

Auf eines kann die Öffentlichkeit aber zählen: Wir werden für Preisstabilität sorgen, und die Rückführung der Inflation auf mittlere Sicht zu einem Wert von 2 % ist nicht verhandelbar.

Dabei folgen wir einer soliden Strategie, die sich nach der Datenlage richtet und die Bereitschaft zum Handeln verankert, aber in Bezug auf unser vorrangiges Ziel keine Kompromisse kennt.

Wir leben in einer Welt, die sich schneller verändert, als wir es uns je hätten vorstellen können. In diesem Umfeld müssen wir uns auf unser Ziel konzentrieren und einer soliden Strategie folgen, um es zu erreichen.

  1. C. Lagarde, Geldpolitik in einem Umfeld hoher Inflation: Konsequenz und Klarheit, Vortrag organisiert von der Eesti Pank und Professor Ragnar Nurkse gewidmet, Tallinn, 4. November 2022.

  2. Dies kann man sehen, wenn man beispielsweise die persistente und gemeinsame Komponente der Inflation (Persistent and Common Component of Inflation – PCCI) mit der PCCI ohne Energie vergleicht. Die PCCI geht seit Sommer 2022 deutlich zurück, während sich die PCCI ohne Energie lediglich stabilisiert hat. 

  3. Eine Erläuterung der verschiedenen Messgrößen der zugrunde liegenden Inflation finden sich in: M. Ehrmann, G. Ferrucci, M. Lenza und D. O’Brien, Measures of underlying inflation for the euro area, EZB, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 4/2018, und Inflation measurement and its assessment in the ECB’s monetary policy strategy review, Occasional Paper Series der EZB, Nr. 265, September 2021.

  4. Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande, Österreich und Griechenland.

  5. Definiert als jene Komponenten der Kerninflation, bei denen die Lohnkosten mehr als 40 % der Vorleistungskosten ausmachen.

  6. Laut Arbeitskräfteerhebung ist die Zahl der Erwerbspersonen seit Anfang 2022 um 2,2 Millionen gestiegen und weiterhin deutlich höher als vor der Pandemie. Grund hierfür ist die zunehmende Erwerbsbeteiligung ausländischer (+1,3 Millionen), weiblicher und älterer Arbeitskräfte.

  7. Rund die Hälfte des gesamten Beschäftigungswachstums seit 2019 entfiel auf den öffentlichen Sektor.

  8. O. Kouvavas, C. Osbat, T. Reinelt und I. Vansteenkiste, Markups and inflation cyclicality in the euro area, Working Paper Series der EZB, Nr. 2617, 2021.

  9. Da sich diese Ersparnisse jedoch auf private Haushalte mit höherem Einkommen konzentrieren, kann dieser Puffer die Erholung der Konsumausgaben nur in begrenztem Umfang unterstützen. Zudem hat sich der reale Wert der Ersparnisüberschüsse aufgrund der Inflation verringert.

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